C. O. G.

Die Busfahrt von North Carolina nach Oregon dauert vier Tage, und die setzen sich aus etwa fünfundsiebzigtausend Stunden zusammen, wenn man ohne die Hilfe eines starken veterinärmedizinischen Beruhigungsmittels reist. Es war mein Schicksal, dass jeder Marine-Infanterist, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte, jeder tränenbefeckte Ausreißer, jeder betrunkene auf Bewährung entlassene Strafgefangene so dicht neben mir saß, dass ich, falls er tatsächlich mal gnädigerweise kurz das Bewusstsein verlor, unweigerlich seinen sprudelnden Speichel mit meinem Hemdkragen auffing. Bücher und Zeitschriften boten keine Erleichterung. Sie taugten nicht nur nicht als Abwehrschild, ihr Dasein zog im Gegenteil alles, von milder Neugier bis hin zu offener Feindseligkeit, auf sich.

«Glaubst du, du lernst was aus einem Buch?», sagte der Mann und boxte meine Kopfstütze mit seinen tätowierten Knöcheln. «Ich werd dir mal was sagen, Bücherwurm, wenn du wirklich die Wahrheit erfahren willst, dann gibt es dafür nur einen Ort: die Justizvollzugsanstalt Chatham. Das ist die beste Scheiß-Schule im ganzen stinkenden Land. Da hab ich alles gelernt, was ich weiß, und noch manches andere. Verdammt, in diesem gottverdammten Bus lernst du mehr als in einer ganzen …» Er hielt inne, war bestrebt, sich daran zu erinnern, wie so was hieß. «Hier wirst du jedenfalls mehr lernen als in einer ganzen Pyramide voller Bücher. Man könnte eine ganze Rennbahn mit der ganzen Scheiße, die jemals geschrieben wurde, vollstopfen, aber hier gibt es mehr zu lernen.» Da ich noch nie eine Rennbahn voller Bücher gesehen hatte, fand ich es übereilt, ihm zu widersprechen. «Da könnten Sie recht haben», sagte ich und betrachtete die Narben, die sein verprügeltes, sonnenverbranntes Gesicht schmückten. «Sie müssen jetzt bald aussteigen, stimmt’s? Sonst setze ich mich gern auf die andere Seite des Busses, damit Sie etwas mehr Platz haben und sich ein bisschen ausstrecken können.»

«‹Ja›, hab ich zu ihm gesagt», sagte das Mädchen, das jetzt neben mir Platz nahm. «Ich hab gesagt: ‹Davon kannst du aber verdammt noch mal ausgehen, dass ich dies Scheiß-Baby kriege.› Ich hab gesagt, ich krieg dies stinkende Stück Scheiße, egal, ob er nun der Scheiß-Vater sein will oder nicht.» Sie pausierte, um sich die Stupsnase mit einem Kniestrumpf abzuwischen, den sie ausschließlich zu diesem Zweck bei sich führte.

«Ich hab gesagt: ‹Ich hab mir diese Scheiße schon vier Jahre lang von Big T bieten lassen müssen, und wenn du glaubst, ich steh einfach da und lass mir noch mehr von der Scheiße bieten, dann kannst du in die knuffigen Knie sinken und mir zwischen Scheiße und Schorf die Haare vom Arschloch lecken, du Arsch.› Ich hab ihm gesagt: ‹Ich habe es scheissenochmal satt, mit einem bleichgesichtigen Nigger rumzuficken, der ständig auf Mösenjagd ist, anstatt mal seinen Scheiß-Fettarsch zu lüften und sich einen ScheißJob zu besorgen.› Dem hab ich’s aber gegeben. Musste mal sein. Ich hab gesagt: ‹Du Scheißkerl hast weniger im Sack, als Gott einer gottverdammten Kirchenmaus mitgegeben hat. Du bist bei deiner Mamma aus der zerfedderten Votze gekrochen, hast dich an ihren ranzigen Titten festgehalten, und seitdem hat sich bei dir nichts geändert, du Arsch.› Ich hab gesagt: ‹Wenn du das Baby nicht willst, finde ich einen Scheißkerl, der es will, jemanden, der die Welt nicht durch den Schlitz seines kackpockigen, schwuchtelärschigen, würmchengroßen Pimmels betrachtet.› Ich hab gesagt: Dann ist das Baby eben ein Bastard, aber ich kann dir garan-scheiße-tieren, dass es nicht halb so sehr ein Bastard ist wie sein Vater, du Arsch und Bastard! Du kannst meinem Opa die Sahne aus seinem alten, krummgewichsten Hutzelpimmel zutzeln, bevor ich dich jemals, und damit meine ich jemals, einen Blick auf das faltige Arschgesicht dieses Babys riskieren lasse, du dämlicher Arsch von einem Scheißkerl› Genau das hab ich ihm gesagt, denn inzwischen ist es mir scheißegal, aber wirklich.»

Nachdem sie diese Information einem Wildfremden mitgeteilt hatte, wühlte die junge Frau in der Handtasche auf ihrem geschwollenen Bauch. Sie zog ihre Bürste hervor, blickte missmutig, sammelte die in den Borsten verfangenen Haare ein und warf sie auf den Fußboden. «Ich hab ihm gesagt: ‹Und noch was, du kalter Bauer›, hab ich gesagt, ‹wenn dieses Baby geboren ist, werde ich nur einen Blick auf sein vollgeschissenes Gesicht werfen, und wenn es dir auch nur so ein bisschen ähnlich sieht, werde ich dem Arzt sagen, er soll ihm den Scheiß-Kopf absägen und als Köder verwenden. Das mache ich, das schwör ich dir bei Gott, und es gibt auf der ganzen Scheiß-Welt nichts, was du dagegen unternehmen kannst.› Nach der ganzen stinkenden Scheiße, die ich diesem Scheißkerl zu verdanken habe, hat der auch noch den Nerv und fragt mich, was ich für Pläne in puncto Namenswahl habe. Kaum zu glauben, so ein Scheiß. Für mich jedenfalls nicht. Ich hab gesagt: ‹Diesen Scheiß glaub ich einfach nicht, du Scheißkerl.› Ich hab gesagt: ‹Du Arsch, ich werd ihn scheissenochmal nennen, wie ich ihn verdammtescheisse nennen will.› Ich hab gesagt: ‹Ich hätte nicht übel Lust, ihn Cecil Scheißkerl Arschgesicht zu nennen, nach seinem Vater, du hässlicher Scheißkerl von einem Arschgesicht.› Ich hab gesagt: ‹Na, was sagst du jetzt, du Flachwichser, du Schwanzlutscher, du Sack voll stinkender, dampfender, blutgesprenkelter Scheiße.›»

Sie wischte sich ein wenig Speichel von den Lippen und machte es sich gemütlich. Das Kind trat und bewegte sich im Mutterleib, und sie reagierte, indem sie vor Schmerz aufschrie, bevor sie mit der fachen Seite der Haarbürste auf ihren Bauch drosch. «Du Arsch», sagte sie, «versuch das noch einmal, und ich komm da mit einem Scheiß-Kleiderbügel rein, dann hast du aber scheissenochmal echt was, was du treten kannst, Scheisse.»

Dies Amerika war die Idee sowjetischer Propaganda-Chefs, eine brutale Landschaft, von hoffnungslosen Einfaltspinseln mit batteriebetriebenen Mündern bewohnt, von einem schlimmen Ort an einen noch übleren treibend. Wenn man Glück hat, wecken einen die Leute im Bus, um eine Zigarette zu borgen. Der Mann auf dem Fensterplatz wird sich wahrscheinlich mit dem Satz «Was hastn du da zu glotzen?» vorstellen. Wegen der unbeständigen Art ihrer Fahrgäste sind die Busfahrer in der Kunst der Konfiktbewältigung bewandert und halten häufig an, um bei einer Meinungsverschiedenheit zu vermitteln.

«Immer klaut er mir meine Leckerlis.»

«Sir, tut mir sehr leid, aber Sie werden diesem Herrn seine Nougats zurückgeben müssen.»

Der Bus kroch dahin und hielt in Städten, durch die wir bestimmt schon vor fünfzehn Minuten gekommen waren. Nun aber mal ein bisschen Tempo, dachte ich. Diese Leute machen mehr Ärger, als sie wert sind. Sollen sie doch die fünfundzwanzig Meilen bis nach Wrinkled Bluffs oder Cobbler’s Knob, oder welchen gottverlassenen Kakteenklumpen sie sonst ihr Zuhause nennen, zu Fuß gehen. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich Ziele, echte Ziele. Dort warteten Menschen auf mich, deren Leben ich bereichern sollte. Sah man das nicht ganz deutlich?

«Dieser Bus fährt jetzt ohne Aufenthalt weiter nach Odell, Oregon», sagte der Fahrer, stellte ich mir vor, ins Mikrofon. «Wer nicht nach Odell will, muss unverzüglich aussteigen und am Rande dieser furchterregenden Wüste eine Warteschlange bilden.»

Meine Mitpassagiere würden stöhnen und grummeln und in die Sitztaschen greifen und ihren mit kleinen Wollmäusen behafteten Zahnersatz und ihre halbvollen Halbliterflaschen Old Spaniel einsammeln. Ich würde sie beobachten, wie sie auf die staubige Landstraße hinaustreten, schäbige Koffer in der Hand, und mit geschüttelter Faust die unversöhnliche Sonne bedrohten. Sobald der letzte von ihnen evakuiert war, würde der Fahrer den Türschließer betätigen, sich auf seinem Sitz umdrehen, den Mützenschirm mit den Fingern berühren und sagen: «Jetzt bringen wir Sie erst mal schleunigst nach Odell, Sir. Bis dahin möchte ich, dass Sie sich einfach zurücklehnen und die Fahrt genießen.»

Nachdem er beinahe zwölf Stunden damit verbracht hatte, die Unannehmlichkeiten seiner ABM-Stelle zu erläutern, erreichte der Mann neben mir endlich seinen Bestimmungsort. Der Platz wurde von einem verdrießlichen, kinnlosen Schlot von einer Frau eingenommen, die einen aschgrauen ärmellosen Rollkragenpullover trug. Das gute Gespräch war ihre Sache nicht, stattdessen puffte sie mich periodisch und zeigte mit ihrer Zigarette auf alles, was ihrer Meinung nach für mich von Belang war. «Laster mit Kühlkost», flüsterte sie. «Tankstelle mit Brettern vernagelt.» Nie suchte sie die Toilette auf oder veränderte ihre Position, nicht einmal während eines ihrer vielen Nickerchen. Der Schlaf schien sie ohne Warnung zu überfallen. «Der dicke Brummer hat Nummernschilder aus South Dakota», und ich wandte mich ihr zu, um festzustellen, dass sie leise schnarchte, die Zigarette immer noch glimmend zwischen den Fingern.

Es war fast Mitternacht irgendwo in Utah, als eine junge Frau in den mehr als ausverkauften Bus einstieg. Sie hatte einen Wäschekorb aus Plastik mit Schuhen und Klamotten dabei. Nachdem sie den Mittelgang entlanggewandert war und vergebens einen Platz gesucht hatte, baute sie sich neben mir auf, verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und räusperte sich mit peinigender Regelmäßigkeit. Sie tat, als hätte ich mich in einer Telefonzelle festgequatscht und labere über Nichtigkeiten, während sie darauf wartete, das Geräusch von Schüssen in einem Kindergarten zu melden. Ich fühlte mich unbehaglich.

«Hier», sagte ich. «Setzen Sie sich doch ein Weilchen hin.» Sie nahm kommentarlos an. Ein Weilchen bedeutete, für mich, eine Zeitspanne von etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten. Wenn wir bis dahin nicht da angekommen waren, wo sie hinwollte, konnte ihr vielleicht sonst wer einen Platz anbieten. Wir konnten schließlich alle ein bisschen zusammenrücken und so jenes einzigartige Band schmieden, wie nur gemeinsame Opferbereitschaft es zu schmieden imstande ist. Nach zwei Minuten auf meinem Platz war die junge Frau fest eingeschlafen, und ihre herabhängende Kinn- lade hob sich nur dann und wann, um etwas zu murren, was sich für mich anhörte wie «Trottel».

Ich ging nach vorne und setzte mich auf die Stufen, bis der Fahrer mich, Vorschriften zitierend, verscheuchte. Dies waren die einzigen Stunden, in denen er ein Privatleben führen konnte, und der Mann war entschlossen, sie zu genießen. Im Morgengrauen würde er wieder alle Hände voll mit den alten Zauseln zu tun haben, die dazu neigten, die vorderen Sitze zu beschlagnahmen, das WÄHREND DER FAHRT NICHT MIT DEM FAHRER SPRECHEN-Schild zu ignorieren und ihn mit Fragen zu löchern wie: «Hat sich schon mal in Ihrem Fön eine schwarze Giftschlange zusammengerollt?»

Ich kehrte zurück, um mich neben meinen Platz zu stellen, und hoffte, dass bald jemand aussteigen würde, aber es gab nichts, weshalb man hätte anhalten können. Die vorbeiziehende Landschaft gab keinerlei Lebenszeichen von sich, sie war nur eine unermessliche, kaltherzige Welt aus Stein. Ich ging eine Zeit lang in die Hocke, bis ich, von Wadenkrämpfen übermannt, endgültig zu Boden ging und unter meinen früheren Platz kroch. Old Smoky saß mit ausgestreckten Beinen da, während meine schlimmste lebende Feindin zum Zappeln und Auskeilen neigte, wobei sie mir, wann immer die Gelegenheit sich bot, buchstäblich die Eier zertrat. Das Paar, das hinter mir saß, übernahm die Nachhut und trat mir mit Geräten, die ich später als die Stahlkappen von Cowboystiefeln identifizierte, abwechselnd gegen Kopf und Wirbelsäule. Ich sagte mir, ich hätte schon Schlimmeres erlebt, aber ich konnte mich noch so sehr anstrengen, ohne dass mir was eingefallen wäre. Der kolossale Motor des Busses lag direkt unter meinem Kopf und versorgte die zahllosen verlorengegangenen Bonbons mit Wärme, die so zu einem duftenden Bett aus geschmolzener Karamelmasse wurden. Irgendwo unterwegs war etwas furchtbar, furchtbar schiefgegangen. Warum war ich, der wichtigste Mann in diesem Bus, gezwungen, die Nacht gekrümmt zu verbringen, nicht auf, sondern unter seinem rechtmäßigen Platz? In einem Flugzeug wäre so was nie passiert.

«Oh», hatte ich zu mehreren meiner früheren Sitznachbarn gesagt, «Sie müssen das mal probieren. Fliegen ist richtig schön. Man kriegt Mahlzeiten und Getränke serviert und kann seine Tasche auf dem Platz liegenlassen, wenn man aufs Klo geht.»

«Echt wahr?», hatten sie gesagt. «Und es kommt nicht irgendein Arsch und macht Scheiß damit?»

Der erstaunte Ausdruck auf ihren Gesichtern war ohnehin der Grund dafür gewesen, dass ich diesen Bus genommen hatte. Nachdem ich die letzten neun Monate damit verbracht hatte, das Geschirr wohlhabender College-Studenten zu waschen, dachte ich, den richtigen Kick kriege ich von der Greyhound-Bagage, aber ich hatte es nicht so wörtlich gemeint. Irgendwie musste eine wichtige Lektion aus alldem zu lernen sein, und eines Tages, mit etwas Glück, würden selbst diese trägen Idioten sie kapieren.

Bis Sonnenaufgang lag ich so da, als der Bus in eine Kurve fuhr und mir eine Flasche Brause mit Schokoladengeschmack gegen die Stirn rollte. Ich kroch auf den Mittelgang und dann aufs Klo, um den Kampf gegen die vielen Kaugummis, die mit meiner Kopfhaut verschmolzen waren, aufzunehmen. Nach und nach erwachten die Passagiere, nur die junge Frau nicht, die meinen Platz besetzt hielt. Mit einem gesunden Schlaf gesegnet, erhob sie sich um zehn und bat mich, ihr den Platz freizuhalten, während sie sich die Zähne putzte.

Ich war in Nullkommanichts eingeschlafen und wachte nur Minuten später wieder auf, weil sie mir mit einer Tube Zahnpasta an den Schädel klopfte. «He, aufwachen.»

Ich tat, als wäre ich im Tiefschlaf, und dachte mir, irgendwann würde sie auch wieder damit aufhören.

«He, dieser Scheißkerl sitzt auf meinem Platz», rief sie. «Ich bin nur mal auf ‹Damen› gegangen, um mich frischzumachen, und jetzt kann ich mich verdammt noch mal nicht mehr hinsetzen.»

«Setz dich doch auf mich», hörte ich jemanden von hinten. «Das wird ein scharfer Ritt.»

«Gut, gut, gut, jetzt haben wir alle unseren Spaß gehabt.» Dies war eine Männerstimme, aber der Fahrer konnte es nicht sein, weil wir immer noch fuhren. «Steh auf, du halbe Portion, und lass die Dame sitzen.»

Eine Hand packte mich am Kragen und stellte mich auf die Füße. Die Hand war schwielig und fleischig und passte sowohl zu Gesicht als auch Persönlichkeit des Besitzers. Der Mann stellte keine Fragen und sprach keine Drohungen aus. Das war auch nicht nötig. Sobald der Platz frei war, wischte er ihn sauber und lud die junge Frau gestenreich dazu ein, es sich bequem zu machen. Ich erwog kurz, meinen Fall dem Volk vorzutragen, aber dies war eindeutig nicht mein Publikum. Es beugte sich vor, verdrehte sich den Hals, um zu flüstern und zu lachen, während ich im Mittelgang stand und den Ausländer spielte, unvertraut mit den Sitten dieses großartigen Landes. Zwar mochte ich versehentlich jemandem den Platz weggenommen haben, aber seht euch doch mal an, wie sehr ich die zerklüftete Landschaft zu genießen schien, die alle anderen für das Normalste von der Welt hielten. Ich bückte mich und senkte den Kopf, um aus dem Fenster zu plieren und bei jedem vorüberhuschenden Felsbrocken vor Entzücken die Brauen zu schürzen. Seht nur! schien ich zu sagen. Der da scheint einem Kardinal zu ähneln, der am Rande eines riesenhaften Pfannkuchens nistet! Und hier haben wir etwas, was aussieht wie eine umgestülpte Holzpantine, welche unter etwas liegt, was eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem blatternarbigen Gesicht jenes ignoranten Bauerntrampels aufweist, welcher den mir rechtmäßig zustehenden Platz besetzt hält!

Gegen Mittag stieg jemand aus, und ich ließ mich erschöpft auf seinem Platz nieder, konnte aber nicht einschlafen, weil eine Verlobung, die auf der anderen Seite des Mittelgangs stattfand, mich zu sehr ablenkte. Nachdem man sich zehntausendmal umgedreht hatte, um sich für die Ritterlichkeit zu bedanken, wurden Plätze getauscht, sodass Graf Rindfleisch und Baroness Wäschekorb nebeneinander sitzen und sich besser kennenlernen konnten. Minuten später hatten sie die Köpfe unter einem Sweatshirt, wo sie entweder den Ruf des Eichhörnchens nachahmten oder sich gegenseitig Akne-Präparate vom Gesicht saugten. Der Lärm von Heavy Metal im Radio, das schneidende Geschrei eines beunruhigten Säuglings, das endlose Gewäsch der beiden alten Zausel vor mir: Alles konnte ich ertragen, nur nicht das Geräusch dieses schnäbelnden, küssenden, vor Vergnügen manchmal aufschreienden Pärchens.

Sie weinte, als er aussteigen musste. Ihre erstickten Schluchzer waren mir ein rechtes Labsal, und sie versetzten mich in einen tiefen, undurchdringlichen Schlaf, der bis nach Reno andauerte.

Dies sollte mein zweiter Besuch im Tal des Hood River werden. Der erste war ein Zufall gewesen. Meine Freundin Veronica und ich hatten in San Francisco gelebt, als sie ihre Früchte des Zorns aus der Hand legte und bekanntgab, dass wir genug vom Stadtleben hatten. Sie sprach gewöhnlich für uns beide, und ich hatte nur selten etwas dagegen, weil es mich der Pflicht entband, eigene Entscheidungen zu treffen. «Wir wollen nach Norden aufbrechen und uns unseren Brüdern und Schwestern in den Obstplantagen anschließen», sagte sie und richtete den Schal, den sie neuerdings um den Kopf trug. «Wanderarbeit, das ist das rechte Leben für uns.» Die guten Menschen dieses Landes brauchten uns, und wir sahen uns bereits in sonnenbesprenkelten Heuschobern ruhen und herzhafte Mahlzeiten einnehmen, bereitet von der in derbes Tuch gekleideten Bauersfrau.

«Durch schwer arbeitende Menschen wie euch dreht sich die Welt», würde sie sagen. «Hier, nehmt noch ein Stück von meinem preisgekrönten Hühnchen; ihr Leut müssts bei Kräften bleiben.» Nach dem Mittagessen würde der freundliche Bauersmann seine Fiedel ergreifen und mit seiner mitreißenden Interpretation von «Truthahn im Stroh» oder «Polly Wolly Doodle» Staub aufwirbeln. Am späten Nachmittag wären wir dann wieder an der Arbeit und hoben Äpfel vom Boden auf und warfen sie in Kisten mit bezaubernden Etiketten wie «Kleine Rothaut» oder «Lehrers Liebling». Unser Leben würde einfach, aber unaussprechlich heroisch sein. Wie sie durch einen Steinbeck-Roman auf solche Ideen verfallen konnte, kann man nur raten, aber ich machte mit, denn wenn es schon sonst nichts brachte, so doch unter Garantie meinen Vater um den Verstand.

Wir fuhren per Anhalter bis nach Oregon hinein und sprangen aus dem Auto, nachdem wir den schneebedeckten Mount Hood gesehen hatten, ein vollkommenes Symbol für das Majestätische, das bald unser Leben auszeichnen sollte. Der erste Farmer weigerte sich, uns anzustellen, weil wir keine Erfahrung hatten. Zwei und Drei lehnten uns aus demselben Grund ab. Den vierten, einen älteren kleinen Mann namens Hobbs, dem die Einwanderungsbehörde gerade seinen mexikanischen Pflückertrupp weggekarrt hatte, logen wir an.

«Ich bin an einem Punkt, da würde ich jeden nehmen, solang er einigermaßen erfolgreich in der Nase bohren kann.» Er starrte die Bäume an, deren Äste sich unter der Last der Früchte bogen. «Erst dachte ich, meine Frau kann mir vielleicht helfen, aber die ist in dem Großen Haus und stirbt an Krebs. Was meinst du dazu, Ringo?»

Wenn Hobbs’ Frau im Sterben lag, konnte es sein altertümlicher Beagle auch nicht mehr lange machen. Das Tier keuchte und stöhnte und benagte die kahlen Flecken, die an der Wurzel seines arthritischen Schwanzes schwärten. «Verdammt, Ringo», sagte Hobbs und warf seine glimmende Kippe ins nasse Gras, «bin nur froh, dass wenigstens du bei mir bist.»

Es sollte keine Picknicks in Heuschobern geben. Kein derbes Tuch, kein Fiedelspiel. Hinter einer dicken Schicht permanenter Sturmwolken verborgen, sprenkelte die Sonne gar nichts. Im Gegensatz zu dem, was wir angenommen hatten, wurden Äpfel nicht vom Boden aufgesammelt, sondern von den Ästen schwer erreichbarer Bäume gepflückt, die von einer rachsüchtigen Borke geschützt wurden, welche dazu neigte, nach einem guten zwölf-stündigen Regen zu einem Gutteil aus Wasser zu bestehen. Wir sprechen hier von einer siebentägigen Arbeitswoche, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bei Niesel- und bei strömendem Regen. Wenn sich durch Menschen wie uns die Erde drehte, so war dies ein gut gehütetes Geheimnis. Als Pflücker bezogen wir eine der sechs Hütten, die am Kiesweg eine Reihe bildeten. Es gab keinen Strom, und außer der Dusche in der Scheune spendete nur noch ein eisiger, rostverklebter Hahn Wasser. Gekocht wurde auf einem Holzofen, und wir schliefen auf Matratzen, die offenbar mit hochhackigen Schuhen gefüllt waren. Diese Härten konnten uns nicht umbringen, also machten sie uns stärker. Wir begannen Latzhosen zu tragen und bewunderten unser düsteres Abbild in den von Kerzen erhellten Fenstern, wenn wir uns über unser dampfendes Porridge beugten. Das musste genügen. Wir waren Pioniere. Menschen wie wir brauchten keine Kissen oder Handtuchhalter. Wir trugen unsere blauen Flecken wie einen Orden und jeder Bronchialkatarrh zeugte von unserer Stärke. Ich erwog bereits, mir eine Waschbärfellmütze zu besorgen, als die Erntezeit vorüber war und wir nach North Carolina zurückreisten, wo ich mich bald an ein Leben mit fließendem warmen Wasser und Elektrizität gewöhnte. Wir hatten geplant, nächstes Jahr wieder pflücken zu fahren, aber als es so weit war, musste Veronica leider zurücktreten. Sie hatte, wie es schien, einen Freund gefunden. Einen Freund. Das Wort stak mir in der Kehle wie Putzwolle. «Es wird nicht von Dauer sein», sagte ich. «Du wirst schon sehen.» Was sollte sie mit einem Freund? Ich stellte mir vor, wie die beiden sich über den Fußboden ihrer Wohnung wälzten, wobei sich Schmutzfuseln an den nackten Rücken und die bleichen, zuckenden Gesäßbacken hefteten. Freund. Sie würde nie jemanden finden, der so gut war wie ich; das habe ich ihr auch gesagt. Als sie mir beipflichtete, wurde ich sogar noch böser, stürmte von ihrer Veranda und sagte zum Abschied lächerlicherweise: «Das wollen wir doch erst mal sehen.»

Ich sagte mir, es sei mir vorherbestimmt, allein meinen Weg zu gehen, aber das Klischee barg keine Tröstung. Wenn ich die Wahl hatte, wollte ich meinen Weg lieber allein mit jemandem gehen, der kochen konnte, und es machte mir Sorgen, so viel Zeit allein verbringen zu müssen. Auf der mir noch verbliebenen Busfahrt erübrigte sich diese Sorge. Ich erreichte Odell mit der Überzeugung: Wenn bis an mein Lebensende wirklich niemand mehr das Wort an mich richten sollte – umso besser.

Die Straße zu Hobbs’ Obstplantage wand sich an einem Milchviehhaltungsbetrieb vorbei, vor dem mehrere Dutzend gefleckte Kühe sich die Zeit damit vertrieben, mit stumpfen Zähnen nasses Gras zu malmen. Vor einem Jahr hatte ich versucht, mich mit ihnen anzufreunden, am Zaun gestanden und mit Klappstullen gewunken, bis der Eigner mich informierte, dass sie weder Hühnchen noch Schweinefleisch aßen, nicht mal zwischendurch. Dumm waren sie, diese Kühe. Die Erntezeit begann Mitte September und dauerte bis Ende Oktober. Innerhalb nur weniger Wochen würde Frost kommen, und wir würden erwachen und sehen, wie unser Atem in schmuddeligen Wolken aus uns schoss. Ich hatte immer gedacht, Kühe verbrächten den Winter in einer Art geheizter Kaserne, stattdessen mussten sie draußen bleiben, egal, wie kalt es wurde. Ahnten diese Tiere denn überhaupt, dass ihr Sommer sich dem Ende näherte? Entsannen sie sich ihres Lebens als junges, sorgloses Kalbfleisch? Freuten sie sich je auf etwas, waren sie zu Reue fähig? Ich ließ meinen Matchbeutel fallen, näherte mich dem Stacheldrahtzaun und hoffte, sie würden vielleicht losstürzen und vor Wiedersehensfreude mit ihren tampenartigen, scheisseverschmierten Schwänzen wedeln, aber sie standen nur so da und arbeiteten methodisch mit den Backen.

Hobbs reagierte wieder haargenau so. «Sieh mal, wer da ist, Ringo. Na, wenn das nicht … Dennis ist? Stimmt’s?» Er schnippte eine glimmende Kippe aufs Gras, trat auf seine Veranda heraus und sagte: «Ich würde dich ja hereinbitten, aber die Frau stirbt immer noch am Krebs. Clifford hat’s jetzt auch erwischt. Den kennst du doch noch, oder? Großer, dicker Typ, war früher mein Vormann. Jetzt ist er drüben in Portland, mit Geschwüren arscheinwärts, so groß wie junge Bartlett-Birnen.»

Da Clifford nicht so bald zurückerwartet wurde, bot Hobbs mir den Wohnanhänger des Vormanns als Bleibe an, der zwischen der Scheune und der langen Reihe aus Hütten stand.

«Komisch, der Krebs.» Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das abgebrannte Streichholz. Über uns versprühte ein Flugzeug Pflanzenschutzmittel und er grüßte winkend. «Ja. Ein absolutes Mysterium.»

Er geleitete mich zur Scheune, vor der ein mexikanischer Mann darauf wartete, dass die Dusche frei wurde, «¡hola, Tomás!», rief er.

Der Mann zerrte an dem Handtuch, das er wie einen Rock um die Hüften trug, und neigte den Kopf zum Gruß, «¡hola, Senor Hobbs!»

«Du sprichst doch etwas mexikanisch, Daniel?», fragte Hobbs. «Bei Gott, ich lerne selbst ein paar Wörter. Muss man aber auch, wenn man in der modernen Welt zurechtkommen will! Wenn ich erst mal loslege, spreche ich wie ein alter Kolumbolivianer, stimmt’s, Ringo?»

Der Hund kniete unter einem Baum und verbog sich, um an seinem eiternden Rektum zu lecken.

«Die Zeiten haben sich geändert, die alten Regeln gelten nicht mehr. Die jungen Leute hier finden, sie sind zu fein zum Arbeiten. Man hat nur noch die Wahl zwischen Gesocks und Mexikanern, und da nehme ich doch jederzeit die dummen Mexikaner.» Er knuffte mir in die Rippen: «Jetzt pass auf. ¡Buenos Diós, Miguel!»

Ein kleiner dunkeläugiger Mann blickte alarmiert von seinem Holzhacken auf.

«Die kriegen leicht einen Schreck», sagte Hobbs.

Ja, manche Menschen neigen dazu, wenn man sich ihnen von hinten nähert und «Guter Gott!» schreit. Wahrscheinlich eine Angewohnheit.

Hobbs schloss die Tür des Anhängers auf, eines bauchigen Humpens von einem Gerät, in Helltürkis, das auf Bausteinen aufgebockt war. Es beunruhigte mich, dass ich, sobald die Schwelle überschritten war, zu der Art Mensch werden konnte, die in einem Anhänger wohnt. Ein Anhänger: allein das Wort löste in meiner Schädelbasis einen Alarm aus. Menschen, die in Anhängern lebten, riefen die Polizei, um gewalttätige Familienkräche zu beenden. Sie pinkelten ins Waschbecken und verwendeten Metalleimer, um zähe lila Steaks mit dem Vermerk «Stark herabgesetzt!» zu grillen. Wofür hielt dieser Mann mich? Wusste er, dass ich in einem Haus mit Geschirrspüler und zentral gesteuerter Klimaanlage aufgewachsen war? In einer rustikalen Hütte Pionier zu spielen, war das eine. Diese Unterkunft jedoch hatte den ganzen Zauber einer überdimensionierten Gasfasche. Ich zögerte und sah Miguel an, wie er einen Stapel Feuerholz auf die Arme nahm. Als er den letzten Klotz gewuchtet hatte, kreischte er laut, ließ die gesamte Ladung fallen, patschte sich auf die Brust und schrie: «Große Spinne! Große Spinne!» In diesem Moment kam einiges zurück. Ich betrachtete die Reihe schäbiger Baracken und warf dann einen Blick in den Anhänger, in welchem sich ein Gasherd zwischen ein Waschbecken und einen summenden Kühlschrank schmiegte. Miguel stand neben der Scheune, trat gegen jedes Stück Feuerholz, bevor er es aus dem Schlamm klaubte, und ich erstieg die Stufen zu meinem Anhänger.

Apfelpfücken ist geistlose Arbeit. Damals, mit Veronica, hatten wir auf denselben Bäumen gearbeitet, waren die Namen in unseren geistigen Adressbüchern durchgegangen und hatten unsere Freunde und Bekannten in alphabetischer Reihenfolge erörtert. Pflücker werden per Eimer bezahlt, wobei der Eimer eine große Holzkiste ist, die etwa eintausendfünfhundert Pfund Obst fasst. Man klettert mit einem Segeltuchsack die Leiter hoch, und wenn er voll ist, leert man ihn vorsichtig in den Eimer. Dann klettert man wieder seine Leiter hinauf und so weiter und so weiter und so weiter und so weiter. Wenn zwei das tun, gelingt es der Zeit, schnell zu vergehen. Veronica und ich begannen den Tag zum Beispiel mit der Scheinschwangerschaft von Beverly April, und wenn wir bei Lucinda Farrels manischer Vorliebe für Türkis-Schmuck angekommen waren, wurde es Zeit zum Mittagessen. Ich versuchte, die Tradition wiederzubeleben, sprach, laut, mit zwei verschiedenen Stimmen, ließ es aber wieder, als Hobbs mich dabei erwischte, wie ich Gregory Allisons Verwendung von LSD als Appetitzügler verteidigte.

Ohne Veronicas Gesellschaft funktionierte es einfach nicht. Auf mich selbst gestellt, ging ich langsam und methodisch daran, mich in den Wahnsinn zu treiben.

Sobald ein Eimer voll war, erschien Hobbs auf seinem Traktor und zog wahllos drei Äpfel daraus hervor. Wenn keiner eine Druckstelle hatte, bekam ich neun Dollar. Wenn einer eine Druckstelle hatte, bekam ich acht, und drei ergaben sieben. An einem guten Tag auf jungen Bäumen war es möglich, bis zu acht Eimer vollzukriegen. Am nächsten Tag dagegen –, wer weiß? Man konnte zehn Stunden damit verbringen, einem einzigen geizigen Baum verkümmertes Obst zu entreißen. Selbst der Schlaf bot keine Abwechslung. Nacht um Nacht träumte ich vom Apfelpfücken, wachte erschöpft auf, und meine Schultern hatten Druckstellen vom schweren Leinwandsack. Ein Freitag war nicht anders als ein Montag oder Mittwoch; ohne arbeitsfreien Tag gab es nichts, worauf man sich freuen konnte. Während der ersten paar Wochen stellte Hobbs seinen Traktor ab, und wir schwatzten ein bisschen, bevor er den Eimer wegfuhr. Sobald ihm klargeworden war, wie viel ich zu schwatzen hatte, ließ er den Motor laufen. «Muss mich um die Frau kümmern», rief er. «Mach du mal schön so weiter.» Die Mexikaner rannten jetzt auf dem Weg zur Dusche im Dauerlauf an meinem Anhänger vorüber. Eine Katze tauchte auf meiner Schwelle auf, genauer gesagt ein Kater, mit einem Hals so dick wie seine Taille. Ich hatte mir nie viel aus rothaarigen Katzen gemacht, weil sie mich immer an Brian O’Shea erinnerten, den anmaßenden Menschen, mit dem ich mir in der siebten Klasse den Spind teilen musste. Schon gar keine Schwäche hatte ich für Kater, die alles vollsprühten und mitten in der Nacht zerfetzt und blutend nach Hause kamen. Ich wollte mich trotzdem nicht zum Richter aufwerfen. Der Kater bedeutete Gesellschaft, und ich nahm ihn auf, weil ich mir überlegte, wenn er sich schon die Ohren abkauen lassen musste, dann konnte ich das auch tun. Ich fütterte ihn mit Sardinen und streichelte ihn, bis die Funken stoben. Er lief weg.

Ohne Gesprächspartner begann ich, meine verschiedenen Gedanken und Meinungen in gewichtige Briefe zu fassen, welche eher im wörtlichen denn im übertragenen Sinne gewichtig waren. Ich schrieb meiner Freundin Evelyn einen siebzehnseitigen Brief, in dem stand, wie ich mich fühlte, nachdem der Kater weggelaufen war. Zwei Wochen später, als keine Reaktion erfolgt war, strich ich ihren Namen aus meinem Adressbuch. Nach und nach tilgte ich sie alle. Acht Seiten an Ted Woestendiek darüber, wie es ist, wenn man sich die Haare mit Waschpulver wäscht. Keine Antwort. Zwölfeinhalb Seiten an Lisa darüber, dass ich ihr verzeihe, geboren worden zu sein. Nichts.

«Liebe Miss Chestnut, Sie fragen sich wahrscheinlich, was seit der dritten Klasse aus mir geworden ist …»

Ich konnte einen ganzen Abend mit einem einzigen Brief zubringen, aber mit Ausnahme von Veronica – «Nein, mein Freund hat mich noch nicht verlassen; trotzdem vielen Dank!» – wurde nie einer beantwortet. Dadurch bekam ich verständlicherweise eine Stinklaune. Ich erwog, am Ende der Erntezeit nach North Carolina zurückzukehren, aber sobald wir mit den Golden Delicious angefangen hatten, überlegte ich es mir noch mal. Was gab es dort, wohin zurückzukehren lohnte? Wie hatte ich diese Leute je für meine Freunde halten können, wenn sie zu faul waren, einen Stift in die Hand zu nehmen und einen Brief zu schreiben? Natürlich vermissten sie mich. Vielleicht war es die beste Strategie, dafür zu sorgen, dass sie mich noch mehr vermissten. Eher zog ich unter eine Brücke, bevor ich zu ihnen zurückkehrte. Dann würde es Gerede geben; sie würden über mich sprechen und sich fragen, wo ich war und was ich trieb. Jemand würde gerüchteweise hören, ich sei auf Rollschuhen durch Europa unterwegs oder mit Michael Landon in ein gemeinsames Penthouse-Apartment gezogen, aber niemand würde Genaueres wissen; dafür würde ich schon sorgen. Sie hatten ihre Chance gehabt, an den faszinierenden Details meines Lebens Anteil zu nehmen, und sie hatten sie vertan, jeder Einzelne von ihnen hatte sie vertan, außer Veronica, der ich zu verzeihen plante, sobald sie sich von diesem Troglodyten getrennt hatte.

Als der letzte Eimer fortgekarrt war, fragte Hobbs, ob ich vielleicht an einem Job in dem dortigen Sortier- und Verpackungsbetrieb interessiert sei. Sie suchten Leute, und er konnte beim Geschäftsführer ein gutes Wort für mich einlegen und mich weiter im Anhänger wohnen lassen, solang ich meinen Strom zahlte und versprach, nicht an seine Tür zu klopfen.

«Es ist nichts, worauf du eine Karriere aufbauen möchtest», sagte er. «Für ein paar Monate ist der Job nicht schlecht, aber danach, garantiere ich dir, wirst du bis ans Ende deines Erdenwallens keinen verdammten Apfel mehr sehen können.» Er betrachtete sinnend seine Zigarette, bevor er sie anzündete. «Einen Pfirsich vielleicht, aber, tut mir leid, keinen Apfel.»

Der Betrieb lag auf halbem Wege zwischen der Stadt und der Farm. Er war ein baufälliger Schandfleck aus Wellblech, und er beherbergte ein archaisches Netz tatteriger Fließbänder, die sich bewegten, als würden sie von einem Gespann Eichhörnchen angetrieben, das irgendwo im Keller in einer Tretmühle schuftete. Nichts an dem Laden war einladend, aber ich vermutete, dass sich das ändern würde, sobald ich meinen Gewerkschaftsausweis bekam. Bald war ich ein Teamster oder so, ein Titel, der meinen Vater garantiert drei Nächte Schlaf kosten und meine früheren Freunde vor Neid rasend machen würde. Alle würden sie etwas davon haben, ein jeglicher zu seiner Zeit. Ich blickte über das Gewimmel in der Fabrikhalle und stellte mir all diese Leute auf Klappstühlen vor, wie ich auf der Bühne stand und das Wort an sie richtete. «Kolleginnen und Kollegen», würde ich brüllen, das Megaphon in der einen schwierigen Hand und einen Stapel Dokumente in der anderen, «jetzt ist die Zeit zu handeln! Dies nennen sie einen Kontrakt? Nun, ich nenne es einen Kontrast, den Unterschied zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es sein sollte!» An dieser Stelle müsste ich eine Pause machen, da der Applaus ohrenbetäubend sein würde. «Wir sind es, die arbeitenden Menschen dieses Landes, durch die die Welt sich dreht, und solange die Geschäftsleitung die Augen vor dieser Tatsache verschließt, und solange die vollgefressenen Daddys da oben nicht bereit sind, ihre Cadillacs zu parken und über einen anständigen Lohn zu verhandeln, solange kann ich nur dies zu ihrem Kontrakt sagen.» Meine Teamster(oder so)-Genossen würden auf ihren Klappstühlen stehen und hurra schreien, während ich den Kontrakt zu Schnipseln zerriss, um ihn sodann leichthin über die linke Schulter zu werfen.

Bisher hatte ich nicht einmal ein Abendessen organisiert, aber das würde sich bestimmt ändern, sobald meine Kollegen merkten, wie gut ich das gesprochene Wort beherrschte und was für natürliche Führungsqualitäten ich besaß, die ich sämtlich im Namen der Demut unterdrückt hatte. Ich hatte immer schon gewusst, wie der einfache Mann zu nehmen war, hatte immer darauf Wert gelegt, ihn aufzuheitern, ohne auf sein vergeudetes, leeres Leben hinabzublicken. Wenn diese Menschen mich zu ihrem Führer machen wollten, hatte ich keine andere Wahl, musste ich dies mit der mir eigenen stillen Würde akzeptieren. «Da-vid, Da-vid, Da-vid.» Der Fußboden des Versammlungssaals würde von ihren Sprechchören erzittern.

Falls all dies, was wenig wahrscheinlich war, nicht geschehen sollte, würde ich wenigstens Schulter an Schulter mit anderen Menschen arbeiten. Sie mochten nicht so aufnahmefähig sein wie ich, aber immerhin begrüßte ich die Möglichkeit, mit etwas zu sprechen, was ohne Stiel oder Schwanz geboren war. Irgendwo in dieser Halle wartete ein Freund. «Ich habe es gewusst, als ich dich zum ersten Mal sah», würde die betreffende Person später beim Abendessen sagen. «Ich sah nur einmal hin und habe mir gesagt: ‹Verdammt, diesen Typ würd ich gern kennen.›»

Ich wurde für die zweite Schicht eingestellt, von 15 bis 23 Uhr. Mein Job bestand darin, an der richtigen Stelle zu stehen und die Blätter von den Äpfeln zu rupfen, wenn sie auf dem Fließband an mir vorbeizogen. Keine 1,20 Meter von mir entfernt stand eine Frau, aber das konstante Geratter machte es unmöglich, eine Diskussion aufrechtzuerhalten. Gabelstapler dröhnten im Hintergrund, während Männer hölzerne Paletten zurecht sägten und zusammenhämmerten. Sprühdüsen, Fließbänder und Generatoren …: der Lärm drückte einen runter, erbarmungslos. Die Türen zur Verladerampe standen stets offen, damit sich niemand über die Hitze beschweren konnte. Ich pflückte die Blätter vom dahineilenden Obst und warf sie auf einen kalten, nassen Haufen, der schnell wuchs, um meine abgestorbenen Füße zu bedecken. Während der ersten Stunde machte ich den Fehler, in einen der Äpfel zu beißen. Frisch aus dem Chemiebad gekommen, verbrannte er mir die Lippen und das Fleisch meiner Mundwinkel, und er hinterließ noch lange einen brüsken Nachgeschmack, als ich längst aufs Klo gerannt und mir den Mund mit Seife ausgewaschen hatte.

Hobbs hatte recht gehabt, als er sagte, ich würde nie wieder einen Apfel sehen wollen, nur zeitlich hatte er sich vertan. Bereits nach den ersten fünfundvierzig Minuten war ich bereit, sie aus meinem Gesichtsfeld zu verbannen. Sie kannten keine Gnade, flössen ohne Unterbrechung vierundzwanzig Stunden lang aufs Fließband und machten den Hunger in der Welt zu einem Mythos oder zu einem Witz, einem grausamen. In einer einzigen halben Stunde hatte ich bestimmt mit genügend Äpfeln zu tun gehabt, um jeden Mann, jede Frau und jedes Kind zu füttern, die auf dieser Welt genügend Zähne hatten, um in ihn zu beißen, oder genügend Willenskraft, ihn zu Apfelmus zu zermatschen.

Es fiel mir bei, dass alles, was wir kaufen, von irgendeiner Blödmännin mit Haarnetz überm Kopf und Watte im Ohr angetickt und eingetütet wird. Jeder Maiskolben, jedes schokoladebeschichtete Rosinchen und Schuhband. Jede Grillzange, jeder papierene Partyhut, jeder nicht selbstgestrickte Topflappenhandschuh trägt eine Geschichte von Unterwerfung und Elend in sich. Vegetarier sehen einen Schweinebraten und denken an das Tier. Ich sehe jetzt die Vegetarier an und frage mich, wer denn wohl die Schweineteile auf die kleinen Styropor-Platten gepackt und dort eingeschweißt hat. Da liegt die echte Tragödie. Zigaretten, Kekse, Kaugummi: alles, was ich in Zukunft sehen sollte, war mit dem Makel der Erinnerung an meinen Ausfug in die Arbeitswelt befleckt. «Kolleginnen und Kollegen, RENNT! RENNT! RENNT UM EUER LEBEN!»

Die Zeit kroch. Ich hob den Schaft meines Gummihandschuhs, kratzte den Frost von der Armbanduhr und stellte fest, dass sich die letzte Stunde auf schlappe sieben Minuten belaufen hatte. Uns standen eine halbe Stunde Mittagspause zu, und dann noch mal dreimal zehn Minuten, die einem vor den Augen zerronnen, während man noch versuchte, die klammen Finger um eine Zigarette zu schließen. Das Essen kam aus Münzautomaten, die in einem Raum aufgestellt waren, aus dem man den vollen Blick auf die Fabrikhalle hatte, damit man, während man sein Sandwich kaute, nicht vergaß, wo man es verdauen würde. Außer mir waren alle Bandarbeiter Frauen mittleren Alters, die die Sortier- und Verpacksaison ertrugen und dann noch für die Konservenabfüllung blieben. Ihre Vorarbeiterin war eine stämmige, sachliche Frau namens Dorothy, die die Football-Jacke ihres Sohnes unter einer schmutzigen Schürze trug, auf welcher die Worte HALT’S MAUL UND ISS! standen.

«Ich kann dir zum Thema Gewerkschaft nur sagen, dass sie, wenn sie an meinen zusätzlichen mir zustehenden Leistungen rummachen, sich ihre Zähne einzeln zwischen meinen blutenden Fingerknöcheln herauspolken können», sagte sie. «Und dafür werde ich persönlich sorgen!»

Sie führte mich zu einem Schwarzen Brett mit dem Protokoll des letzten Meetings. In jedem Satz kamen eine Menge Abkürzungen vor, und bald fragte ich nicht mehr, was sie bedeuteten. Verglichen mit einer namentlichen Abstimmung über Abfindungen, kam mir alles, sogar mein Job, aufregend vor. Bis es so weit war, dass ich für zahnärztliche Versorgung infrage kam, war ich so alt, dass ich ein Gebiss brauchte, keine Füllungen. «Du würdest dich wundern», sagte Dorothy. «Das haben die Jahre so an sich, dass sie mehr werden, nicht weniger.»

Das war mir klar, aber konnten sie nicht mehr werden, ohne so wenig zu bedeuten?

Eines Abends machten wir Pause, und ich fragte, ob jemand vielleicht zufällig Italienisch sprach. «Ich hab das auf dem College ein Jahr lang gelernt», sagte ich, «und jetzt habe ich das Wort für ‹Tragödie› komplett vergessen. Spanisch kann ich natürlich auch, und ein Quentchen Griechisch, aber Italienisch ist nun mal so, nun, bellissimo, stimmt’s?»

Meine Versuche, sie zu beeindrucken, scheiterten kläglich. Fortan nannten mich die Frauen Einstein. «Dass du ein Schlauer bist, wusste ich gleich, als du in den Apfel gebissen hast», blökte Trish. «Da habe ich mir gesagt: Da hat aber mal jemand einen guten Kopf auf den Schultern.»

Der Pausenraum füllte sich mit Gelächter. «Hey, Einstein, was heißt ‹Windbeutel› auf lateinisch?»

«Sag mal, Einstein», fragte Dorothy, «fünf Punkte, wenn du weißt, welche hiesige High-School-Football-Mannschaft es ins Oregon-Finale schafft.»

«Ach, lasst den Kleinen doch zufrieden.» Dies war eine Männerstimme, die irgendwo hinter mir erklang. «Der Typ hat über Besseres nachzudenken als über deinen fettärschigen Sohn, der für die trübseligen Miezekatzen als Manndecker herumläuft.»

«Mein Junge ist Quarterback», rief Dorothy. «Und zu deiner Information heißen sie die Wildkatzen und sind Kreismeister! Steck dir das hinter den Spiegel.»

Der Mann machte ihr eine lange Nase und bedeutete mir, ich solle an seinem Tisch Platz nehmen. «So ein blöder Hühnerhaufen, aber mach dir nichts draus; sie kriegen alle, was sie verdienen. Sobald sie zu alt zum Eierlegen sind, drehen wir ihnen auf dem Hinterhof den Hals um.»

«Pass bloß auf, Alter», sagte Dorothy und zerrte an ihren Schürzenbändern.

Der Mann stellte sich als Timothy vor und fügte hinzu, alle seine echten Freunde sagten Curly zu ihm, was ein seltsamer Kosename war, wenn man bedachte, dass seine weizenblonden Haare ihm glatt von der erkahlenden Kopfhaut herunter wuchsen. «Es muss schwer sein für jemanden wie dich, in so einem Loch wie diesem gefangen zu sein. Diese blöden Kühe haben was gegen Leute mit Verstand und vernünftiger Bildung; da fühlen sie sich in der Falle und bedroht, und das mögen wir ja nicht, nein, das mögen wir ganz und gar nicht. Himmel noch mal, so was ertraaaaaagen sie nicht.» Er schauderte und verschränkte die Arme, als hätte er Angst.

«Ich weiß genau, was du hier durchmachst, denn wir beide sind uns sehr ähnlich», sagte er. «Ich bin wahrscheinlich mindestens fünfzehn Jahre älter als du und auch nicht entfernt so schlau wie du, aber im Januar gehe ich auf die Volkshochschule und belege einen Kurs in Betriebswirtschaftslehre. Es wird Zeit, die alte Denkmütze anzulegen und zur Abwechslung hart zu arbeiten. Ich hab schon genug Zeit verplempert.» Curly war irgendwie nicht ganz echt, aber ich war nicht in der Lage, Freundschaft zurückzuweisen. Allmählich mochte ich seine Gesellschaft und wünschte mir manchmal fast, wir könnten über etwas anderes als mich sprechen. «Sag mal, Dave, erzähl mir doch noch mal von dem Traum, den du gestern Nacht hattest, den mit den Schrumpfköpfen in der Eierpappe. Da steckt eine machtvolle Symbolik drin; vielleicht kriegen wir raus, welche.» Er war nicht der Hellste von der Welt, aber er trug das Herz am rechten Fleck.

Curly arbeitete in der ersten Schicht als Gabelstaplerfahrer, oft bis spät abends, um Überstundengeld zu kriegen. Manchmal fuhr er nachts auch einfach zurück zur Fabrik, um mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Er sprach mit dem Vorarbeiter und ich wurde zum Sortierer befördert. Die entblätterten, funkelnden Äpfel zogen auf dem Band vorbei, und meine Aufgabe war es, die tollen von den ganz tollen zu trennen. Nie hatte jemand den Unterschied zwischen den beiden Kategorien erklärt. Ich versuchte, Gail und Dorothy zu fragen, aber die waren wütend, weil ich ohne längere Betriebszugehörigkeit befördert worden war, und ignorierten mich. Ich beobachtete sie und tat es ihnen gleich: Ich kaute Kaugummi, verschränkte die Arme und saß auf einem Hocker, bis ein Geschäftsführer in Sicht kam; an diesem Punkt begann ich, rasch und wahllos zu selektieren, und tat diesen Apfel auf das tolle Band und jenen auf das ganz tolle. Verdorbenes Obst wurde auf eine Rutsche geworfen und später zu Babynahrung verarbeitet. Die Gehaltserhöhung betrug fünfundzwanzig Cent die Stunde. Dieser Job war trockener als mein voriger, aber auch nicht aufregender.

«Da hat sich doch jemand bis in die Mitte hochgeschlafen», hörte ich Connie bei der Kaffeemaschine Trish zuflüstern. «Als nächstes trägt er pelzgefütterte Handschuhe und hat ein Kissen unter seinem kleinen Popo.»

Ich nahm an, dass von mir gesprochen wurde, da ich in der gesamten Firma Duckwall-Pooley der einzige Mitarbeiter war, der über etwas verfügte, was man hätte als kleinen Popo bezeichnen können. Curly hatte recht gehabt, was diese Frauen betraf: Sie waren genauso billig und engstirnig wie nur irgend möglich. «Bis in die Mitte hochgeschlafen.» Wenn ich wirklich bei der Arbeit geschlafen hätte, wäre ich doch im Ernst wohl kaum befördert worden, oder?

«Das ist hier ein unbarmherziges Geschäft, mein Lieber, lass dir bloß nichts anderes weismachen», sagte Curly. «Du hast Glück, dass dir jemand den Rücken freihält. Die sind nur eine Herde dämlicher Schafe und eines Tages werden sie geschoren.»

Ich war seit drei Wochen in der Fabrik, als Curly mich auf einen Drink in seinen Anhänger einlud. Er wohnte direkt außerhalb von Hood River in einem Doppelanhänger mit seiner Mutter zusammen, einer Frau, von der er oft sprach. «Ich habe Mutter erzählt, dass du gesagt hast, Dorothys Mund sieht aus wie eine Schussverletzung, und sie hätte sich bei Gott fast was getan, so sehr hat sie gelacht. Sie ist eine sehr lustige Dame, meine Mutter. Nichts findet sie so komisch wie einen guten Poch-poch-wer-ist-da-Ulla-Welche-Ulla?-Ulla-paloma-blanca-Witz. Kennst du auch so einen, der auch so zum Totlachen ist?»

So verzweifelt, wie ich mich nach Gesellschaft sehnte, so klar war mir, dass ich es mit einem Versager zu tun hatte. In BWL schien Curly seine perfekte Karriere ausgemacht zu haben. Ich konnte ihn mir ganz leicht mit einem kurzärmeligen Hemd vorstellen, die Brusttasche von Kugelschreibern ausgebeult. Jemand kam an, fragte ihn, ob er mal bei den Stechkarten nach dem Rechten sehen könne, und dann sagte er wahrscheinlich etwas Doofes wie «Alles klar, keiner weiß Bescheid». Ich hatte versucht, ihn auf die richtige Bahn zu bringen, aber die Möglichkeiten sind begrenzt bei jemandem, der glaubt, Auschwitz sei eine Biermarke.

Er parkte den Kleinlaster in der Einfahrt vor seinem Anhänger, der unter einer Gruppe Tannen stand. Die Nacht war so kalt und klar, dass man den dampfenden Atem des heranstürmenden Schäferhunds sehen konnte.

«Wo ist der King?», fragte Curly und kniete nieder, um sich das Gesicht lecken zu lassen. «Da ist er ja! Du bist doch der King, oder? Der Lieblingsking, der King aller Biere. Wer ist der King aller Biere? Ja, wo ist er denn? Wo ist er denn?» Er boxte dem Hund voller Zuneigung auf den Kopf und sagte dann: «So. Gut. Genug gespielt. Hau ab, King. Verzieh dich.»

Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, kam der Hund zurück, drückte den Kopf gegen den Türpfosten und wollte hinein. «Scheißkerl, ich hab NEIN gesagt.» Curly trat den Hund mit seinen spitzen Stiefeln und das Tier lief auf den Hof zurück. «Hab ich nicht nein gesagt? Hab ich nicht gesagt, genug gespielt?» Wieder ging er in die Knie und seine Stimme wurde sanft und süß. «Lieblingsking. Wo ist mein King aller Biere, mein King of the Road, Lieblingsking? Ja, wo ist er denn hingerannt? Der King ist weggerannt und hat seine Krone im Staub vergessen. Wer will seine Krone wiederhaben? Wo ist denn mein King nur hin? Wer ist rechtmäßiger Besitzer dieser Krone?»

Der Hund kam heran, duckte sich vor Curly, der ihn am Halsband ergriff und ihm mehrmals in den Hintern trat, bevor er ihn freiließ. «Ist nur ein Spiel», sagte er und wischte sich die Hände an der Hose ab. «Er hat’s gern ein bisschen wild.»

Es war die extreme Hitze, zusammen mit einem gemeinen, fauligen Geruch, die ahnen ließ, dass Curlys Heim kein allzu trautes war. Es roch nach allem Schmutzigen, das man sich vorstellen konnte, und dann noch nach mehreren Dutzend schmutziger Dinge, die sich ein anständiger Mensch nicht vorstellen konnte. Das Wohnzimmer war in Nussbaum-Imitat getäfelt und mit gerahmten Drucken vollgehängt, die weniger komplizierten Zeitläuften gewidmet waren, als barfüßige Knaben dem alten Apfelmann Äpfel von seinem alten Apfelkarren stibitzten. Sofas und Sessel waren mit rotem Veloursamt gepolstert und mit Plastikbezügen geschützt, die auf behaglichen Sitz zugeschnitten waren. Auf dem Couchtisch stand ein prunkvolles Feuerzeug, welches von mehreren Exemplaren des Oregonian umrahmt wurde, die fächerförmig angeordnet waren. Rundliche Cherubim tollten am Fuß jeder Stehlampe herum und der königsblaue Teppich war mit einem Netz von Läufern belegt. Es war nicht dreckig oder auch nur unordentlich, nur unglaublich stinkig, als wäre der Anhänger selbst einmal etwas gewesen, was gelebt und geatmet hatte, aber vor etwa sechs Monaten gestorben, nun der Verwesung anheimgegeben und ohne würdiges Begräbnis geblieben war.

«Mutter? Bist du schon salonfähig? Dein Sohn Nummer eins ist heimgekehrt.» Er öffnete eine Tür am Ende des Ganges, ich sah eine dünne, eingeschrumpelte Bohnenstange von Frau, die sich von einer Kloschüssel erhob, wandte mich ab und tat, als prüfte ich das Bild eines rüstigen Opas, der die Arme weit auseinanderhielt, um zu zeigen, wie groß der war, der ihm entwischt war.

«Ich dachte, du bist einer von den Taylor-Buben», sagte die Frau. «Ich dachte, du willst den großen Eimer Würstchen wieder abholen. Ihr Vater hat sie vorbeigebracht, einen ganzen, großen Eimer voll. Ich hab angerufen und gesagt: ‹Was soll ich denn mit so viel Würstchen. Schick den Jungen vorbei; er soll sie wieder mitnehmen.›»

Curly senkte die Stimme. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber es klang ungeduldig.

«Nein, ich will nicht, dass du den Stock holst», hörte ich die Frau sagen. «Ich will, dass diese Würstchen aus meinem Schrank verschwinden, ist, was ich will. Ruf diesen Taylor-Buben an, damit er sie abholt.»

Ich hörte, wie sie protestierte, als sie angehoben wurde, hörte, wie das Klo gespült wurde und Wasser ins Waschbecken lief. «Ich mag solche Würstchen nicht. Ruf an, sie sollen sie wegschaffen.»

Curly öffnete die Tür, tauchte wieder auf, seine Mutter im Schlepp, führte sie an der Küche vorbei und in einen Raum, den, das wusste ich, ich nie betreten wollte. Ich hätte mich mal wieder treten können, weil ich nie fahren gelernt hatte. Mit dem Geld, das ich bei der Apfelernte verdient hatte, hatte ich genug Bares unter der Matratze für ein Gebrauchtmodell. Mit einem eigenen Auto hätte ich mir irgendeine Entschuldigung einfallen lassen und problemlos abhauen können. Ich hätte auch sein Auto nehmen können, wenn ich gewusst hätte, wie man den Motor anlässt und wegfährt. Während ich in einem Anhänger wohnte, war es klar, dass Curly in einem lebte, und es entsetzte mich, dass er mich fälschlicherweise für seinesgleichen gehalten hatte. Lag es an meiner Kleidung? An der Blässe meiner Haut? Meiner Neigung, den Mund offen klaffen zu lassen, wenn mir fad war? Anhängerbewohner wurden ähnlich wie das Apfelmus in der Fabrik eingedost und etikettiert, sodass die ganze Welt die Zutaten sehen konnte: in schwimmendem Fett gegartes Steak mit Panade, verkochtes Gemüse, keine Grundkenntnisse der wichtigsten italienischen Filmregisseure …; die Liste wurde immer länger.

«Mann, ist sie müde oder was?», sagte Curly und schüttelte ungläubig den Kopf, als er aus dem Schlafzimmer kam. «Manchmal ist sie wie eine Uhr, wenn du weißt, was ich meine. Kuckuck. Kuckuck.» Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe und ließ ihn rotieren. «Du weißt ja, wie’s mit Müttern ist. Man kann nicht mit ihnen leben und sie passen nicht in einen Sack. Hey, hab ich das gesagt?» Er drückte sich auf die Fingerspitze, als wäre sie der RÜCKLAUF-Knopf. «Sind wir hergekommen, um uns ein bisschen zu entspannen oder was?» Er trat in die Küche, kehrte mit einem Sechserpack Bier zurück und erläuterte, wir sollten uns vielleicht in sein Schlafzimmer zurückziehen, da seine Mutter einen leichten Schlaf habe. «Sie kann, mein lieber Mann, zum regelrechten dreiköpfigen Ungeheuer werden, wenn sie nicht ihr Auge voll Schlaf kriegt», sagte er. «Du bist doch nicht so, oder? Bist du ein griesgrämiger alter Werwolf, wenn du morgens aufwachst? Das will ich aber nicht hoffen, denn ich hab ja wolche Angft vor Monftern.» Er kaute sich an den Nägeln und ging in die schlotternden Knie. «Hab ja wolche Angft. Piff mir in die Howe.»

Wie immer es um Curlys theatralische Angst bestellt sein mochte, sie kam aber auch nicht entfernt an meinen echten Horror heran, als er die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete, welches als Ausstellungsraum für seine umfangreiche Sammlung künstlicher Penisse diente. Sie hingen an den Wänden, ragten einem von Wandplakaten entgegen und standen aufrecht, ordentlich in Regalen und auf Tischplatten angeordnet. In Holz, Plastik oder fleischigem Gummi kopiert, war ihnen ihre erhebliche Größe gemein. Manche waren detailliert ausgeführt und wiesen Adern und lockigen Haarbewuchs auf, während andere als minimalistische Andeutung existierten. Schwarz oder weiß, poliertes Aluminium oder fleischfarben, elektrisch oder manuell –, die Botschaft war dieselbe.

«Na, was meinst du?», sagte Curly und ließ sich auf dem Wasserbett nieder.

«Das ist ja wirklich eine … beeindruckende Tagesdecke», sagte ich und hoffte, die Aufmerksamkeit auf die Farbwahl zu lenken. «Das … Orange ist ein richtig orangefarbenes Orange, stimmt’s?»

«Ja, so könnte man es wohl sagen», sagte er und griff nach etwas, was stark einer Thermosflasche ähnelte. «Wie gefällt dir meine Spielzeugsammlung? Ich hatte mir gedacht, du könntest mehr damit anfangen als irgendjemand, den ich sonst so kenne. Als ich dich zum ersten Mal sah, hab ich mir gedacht: ‹Dieser Junge braucht einen Spielkameraden.› Also, wie sieht’s aus, wie sieht’s aus, kommt Charlie Brown zum Spielen raus?»

«Oh, Mann», sagte ich. «Wirklich nett, dass du fragst … Curly. Es ist ja nur, äh, weil wir doch zusammen arbeiten …»

«Ein Grund mehr, auch zusammen zu spielen», sagte er. «Na los, Einstein, komm mir nicht mit der Scheiße. Hier, du hast mich auf Touren gebracht wie einen Güterzug.» Er fuhr mit dem Reißverschluss seiner Jeans auf dem Gleis seines Hosenschlitzes auf und ab. «Du hast dich zu weit vorgewagt, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Spiel nicht solche Spielchen mit mir.»

«Tu ich ja gar nicht», sagte ich. «Es ist nur so, dass ich … äh … diese … verdammten Filzläuse habe.» Ich kratzte mich wild und gratulierte mir im stillen zu dieser List. «Die wird man echt schwer wieder los, und ich möchte nicht, dass du sie dir auch noch holst.»

«War auch nicht das erste Mal», sagte er. «Los, beweg deinen Arsch ins Bett. Curly wird diese bösen alten Filzläuse finden und ihnen ordentlich den Hintern versohlen.»

«Das klingt ja … wirklich … vielversprechend», sagte ich. «Natürlich nicht für die Filzläuse … Für die klingt es eher … äh … nicht so gut.» Ich entschuldigte mich, ich müsse aufs Klo. Curly hatte mir vorher die Jacke abgenommen und ich tastete nach ihr in der dunklen Garderobe. Als ich hörte, wie er nach mir rief, schnappte ich mir die daunengefütterte Jacke, floh zur Vordertür hinaus, rannte über die Einfahrt und weiter auf die dunkle Straße.

Erst als ich eine Straßenlaterne erreichte, merkte ich, dass ich eine Damenjacke trug. Sie war daunengefüttert, wie meine, aber rosa, und die Taschen waren voller zusammengeknüllter Kleenextücher. Ein Auto bog um die Ecke und raste auf mich zu. Kurz bevor er mich erreicht hatte, scherte der Fahrer aus, fuhr aufs Bankett, und ich fiel rückwärts in einen Graben. Eine Bierdose landete neben meinem Kopf, und ich hörte, wie Gelächter und laut aufgedrehte Musik in der Ferne verklangen.

Als warmer, sicherer Ort war der Graben gar nicht übel. In faulende Blätter und Fetzen Papier gekauert, fragte ich mich, wie ich bei Curly so unrecht gehabt haben konnte. Ich hatte immer angenommen, er wäre ledig, weil er keine Frau finden konnte, die verzweifelt genug war, sich mit seiner Unreife abzufinden. Wäre alles anders gewesen, wenn ich ihn attraktiv gefunden hätte? Wenn er wie, sagen wir mal, William Holden in dem Film Picknick aussähe, hätte ich mir dann seinen überheizten Anhänger und seine Blödmannsgeschichten bieten lassen? Ich rief mir seine Kollektion künstlicher Penisse ins Gedächtnis zurück und begriff, dass die Antwort eindeutig Nein! lauten musste. Nach einem solchen Monster konnte der nächste Schritt nur darin bestehen, dass ich auf einem eingefetteten Hydranten saß. Bevor ich wusste, wie mir geschah, wäre ich zu einem jener Männer mittleren Alters geworden, die Windeln trugen und beim Gehen humpelten. Ich wusste, ich hatte in der Sortier- und Packfirma meine letzte Schicht gearbeitet. Es war nicht Curlys Schuld, aber es ist immer schön, jemanden zu haben, dem man sie geben kann. Wenn überhaupt, sollte ich ihm dankbar sein, weil er mir einen guten Vorwand zum Abhauen geliefert hatte. Plötzlich schien es eine gute Idee zu sein, die Brocken hinzuschmeißen und die Stadt zu verlassen. Zuerst wollte ich jedoch einfach ein Weilchen in diesem Graben liegen, gut in eine Damenjacke eingemummelt, und mich fragen, wo ich einen Fehler gemacht hatte.

Seitdem die Mexikaner weg waren, war Hobbs’ Obstplantage ein trostloser Ort. Kurz nach Sonnenaufgang hinkte ich in meinen Anhänger und starrte aus dem Fenster auf die kahlen Bäume. Das Problem, wenn man eine Stadt verließ, war, dass man früher oder später in einer anderen ankommen musste. Ich nahm mir vor, irgendwohin zu fahren, wo es exotisch war, nach Portland vielleicht, oder nach Tacoma (Washington), aber tiefinnerst wusste ich, dass ich, sobald mein Bündel geschnürt war, nach North Carolina zu- rückkehren würde. Wenn ich nur noch ein bisschen länger hierbleiben konnte, entwickelte ich vielleicht die emotionalen Schwielen, die man brauchte, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen und allein ein neues Leben zu beginnen. Es war wie eine fiebrige Erkrankung: Nur noch ein paar Wochen und vielleicht wäre ich dann darüber hinweg gewesen. Nichts, so schien es, konnte einen in seinen Vorsätzen so schwankend machen wie eine Nacht im Straßengraben.

Ich fuhr per Anhalter nach Hood River hinein, um meine Leihbücherei-Bücher zurückzugeben, und machte kurz bei der Firma halt, um zu erklären, dass ich meinen Job nicht mehr brauchte.

«Yale», rief ich dem Vorarbeiter zu, um den Lärm des Generators zu übertönen. «Ich muss zurück nach Osten; ich habe einen Ruf als Gastdozent.»

«Du hast dir deinen Ruf im Knast erpennt und musst jetzt zurück? Pass gut auf, wenn du dich beim Duschen bückst, weil dir die Seife weggefutscht ist. Also bis dann, wenn du wieder raus bist.»

«Sieht aus, als ginge es zurück nach Hause», flüsterte ich der Bibliothekarin zu und überreichte ihr meine zerfledderten überfälligen Exemplare von Tal der Puppen und Rosemarys Baby. «Ich habe einen Ruf als Gastdozent nach Yale, und weil die Erntezeit sowieso vorbei ist, dachte ich, warum nicht?»

«Bevor man verhungert», seufzte die Frau.

Ich weiß nicht, warum ich überhaupt das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen. Außer der rechtmäßigen Eigentümerin meiner rosa Jacke betraf mein Scheiden niemanden. Ich hatte mehrere Monate dort verbracht und es war nichts dabei herausgekommen. Da ich nicht die Art Mensch war, welche die Dinge ins Rollen brachte, musste ich mich von den Dingen überrollen lassen. Ich erwartete, dass sich mir die ganz großen Möglichkeiten eröffneten, und das hatten sie getan, in Form von einem Gewerkschaftsausweis und drei Dutzend künstlichen Penissen. In North Carolina würde es auch nicht anders sein als in Oregon. Ich dachte an diese Leute im Bus, die von einem beschissenen Ort zum nächsten fuhren und keinerlei Veränderung erwarteten, außer landschaftlich. Bald saß ich wieder neben ihnen, teilte mit ihnen meine Kartoffelchips und fand sie ganz toll.

Ich war wieder in Richtung Odell unterwegs, als mich ein Mann in seinem Kombi mitnahm, der sich als Jonathan Combs, C. O. G., vorstellte.

Ich fragte, was die Buchstaben bedeuteten, und er sagte, ich solle mal raten. Er schien ein Mittfünfziger zu sein, mit teigigem, quadratischem Gesicht, einer Brille mit schwerem, schwarzem Rahmen und einem silbernen Bürstenhaarschnitt.

«Los, rate mal», sagte er.

Cousin of Godzilla?, dachte ich. Clobiger oller Gauner? Cholesteringefährdeter Ost-Gote?

«Ich komm beim besten Willen nicht drauf», sagte ich.

«Child of God», sagte er. «Auch du bist eins! Da hattest du nun immer schon diesen glorreichen Titel und wusstest es nicht mal! Ich habe ihn mir sogar auf meine Schecks drucken lassen. Wenn der Mann da oben sie auch noch einlöst, bin ich ganz groß im Geschäft. HA!» Er wandte sich an sein Autodach. «War nur ein Scherz, o Herr.» Jon sagte, er könne mich bis nach Odell hinein mitnehmen, müsse aber erst noch kurz beim Studio vorbeischauen. Ich fragte, was er da mache, und er sagte: «Ich bin Künstler, das mache ich da. Schon mal einen Künstler kennengelernt? Manchmal benehmen wir uns vielleicht ein bisschen merkwürdig, aber keine Sorge, Kleiner, ich bin geimpft und hab bisher noch keinen gebissen.»

Er bog in eine Wohnstraße und hielt vor einem Haus, das mit den Überresten von Halloween dekoriert war. Durchweichte Gespenster hingen an den Bäumen, vom Morgenregen gequollen, der ausgehöhlte Kürbis war eingeschrumpelt, und sein einst vergnügtes Gesicht ähnelte dem einer zahnlosen, sonnenverbrannten Mumie. «Diese freundlichen Menschen sind Mitglieder meiner Kirche», erklärte er. «Ich habe ihnen gesagt, ich suche ein Studio, und da haben sie mir ihren Kellerschlüssel gegeben. Einfach so.» Er lächelte und schüttelte beim Gedanken an sein günstiges Geschick den Kopf. «Du wirst die tollsten Menschen der Welt kennenlernen, und sie leben hier, in dieser Stadt», sagte er. «Naja, ich glaube, dich brauche ich nicht daran zu erinnern. Du hast ja schon einen kennengelernt.»

«Wen?»

«Mich, du Idiot!», Er griff nach zwei Aluminium-Spazierstöcken, die neben ihm lagen, und stützte sich beim Aussteigen auf sie. Ich folgte ihm und tat, als nähme ich die unmissverständlichen Geräusche nicht wahr, die aus seiner Hose drangen. Entweder litt er unter einem besonders schweren Fall von Flatulenz, oder in seiner Gesäßtasche saß ein Knirps, der Trompete übte. «Fühlst du dich stark genug, etwas Erstaunliches zu sehen?», fragte er. «Dann halte mal schön deine Socken fest, denn der Anblick wird dich geradewegs aus den Socken hauen.» Er öffnete die Tür zu einem Kellerraum, der mit einer Waschmaschine und einer Trockenschleuder ausgerüstet war. In der anderen Ecke des Raumes standen mehrere große, schmuddelige Maschinen mit unklarem Verwendungszweck. Er knipste die Deckenbeleuchtung an und wuchtete sich in Richtung eines Felsbrockens, der in einem Kasten mit rostfarbenem Wasser ruhte. «Ta-ta-ta-taa! Na, wie geht’s den Socken? Noch alles dran?», fragte er.

Mich beschlich das deutliche Gefühl, etwas nicht mitzukriegen, was doch so offensichtlich war.

«Das ist Jade!» Die Augen des Mannes funkelten. «Und ich hab noch viel, viel mehr, wo das herkommt. Ist vielleicht nicht allerbeste Qualität, aber immerhin, es ist genug da, um mich zehnmal zum reichen Mann zu machen, wenn ich keine Scheiße baue und nicht wieder anfange zu saufen, gleich dreimal auf Holz klopfen.» Er setzte sich, pochte gegen seine Knie und verursachte ein hohles Geräusch.

Ich war sprachlos.

«Dreimal auf Holz klopfen gefällig? Nur zu; freie Auswahl. Ein Bein ist so gut wie das andere.» Er zog die Hosenbeine hoch und enthüllte glatte, kittfarbene Waden. «Sie sind nicht echt aus Holz; da hab ich dir ein Bein gestellt. Ha! Nicht schlecht, was? Oder, anders ausgedrückt, ganz schön beinlich! Nein, sie sind voll aus Plastik, und sie gehören mir, und ich will sie auch behalten.» In einer gespielten Abwehrhaltung umklammerte er seine Knie.

Der Mann war eindeutig eine Art Wahnsinniger, vielen anderen Menschen nicht unähnlich, die mich per Anhalter mitgenommen hatten, aber bei diesem wusste ich mit Bestimmtheit, dass ich ihm, wenn es darauf ankam, wegrennen konnte. Vielleicht blieb ich deshalb und hörte ihm zu, wenn er von den vielen Jahren erzählte, die er in Alaska verbracht hatte. Das war auch so eine Gegend, in die mich nichts zog. Meine Kinderphantasien mit Eisbären und lächelnden Eskimos, die einander durch die gefrorene Tundra jagten, waren durch Zeitschriftenartikel über Städte mit hohen Lebenshaltungskosten und niedrigen Verdienstmöglichkeiten zunichte gemacht worden, in denen bärtige Männer unter einer unbarmherzigen Mitternachtssonne um Bräute aus dem Versandhauskatalog Armdrücken spielten. Wenn dies das letzte Neuland war, das es zu erringen galt: bitte, bitte.

Nachdem seine erste Ehe gescheitert war, reiste Jon auf der Suche nach Reichtum gen Fairbanks. «Aber das einzige Gold, das ich fand, wirbelte auf dem Boden einer Flasche.» Er verlor sein linkes Bein, als sich sein Auto überschlug und ihn gegen einen Baum nagelte. Dessen Partner wurde ein paar Monate später wegen Wundbrand amputiert. Es waren die Lufttaschen zwischen den Prothesen und den Beinstümpfen, welche beim Gehen diese Furzgeräusche hervorbrachten.

«Da war ich also. Meine Beine waren nicht mehr aktuell, aber ich hatte immer noch meine Hände, und mehr brauchte man nicht, um nach der Flasche zu greifen. Ja,’s ist wahr, die beste Medizin der Welt wird von einem Burschen hergestellt, und der ist im ganzen Land unter dem Namen Jim Beam bekannt. Ich war ein ausgetrockneter Jammerlappen, mit nichts zu tun als sich zu besaufen und zu bemitleiden. Und genau das tat ich, bis ich einen Mann kennenlernte, der mir sagte, ich kann auch ohne ein Paar Stinkfüße gehen. Einen Mann, den ich zufällig auf dem von Menschen wimmelnden Korridor eines Krankenhauses der Veterans’ Administration kennenlernte. Einen Mann namens Jesus Christus. Er war zufällig eng mit meiner Frau befreundet und fand, wir sollten uns kennenlernen. Damals war sie natürlich noch nicht meine Frau, sondern nur eine weitere hübsche Krankenschwester mit einer tollen Garnitur Titten und einem Arsch, in dem man verlorengehen konnte. Jesus hat uns zusammengebracht. Dann sagte er uns, wir sollten heiraten und so schnell wie möglich aus Alaska verduften, und so, verdammte Scheiße, geschah’s.»

Das mit der Jade kam später, irgendwo im Bundesstaat Washington, wo er auch Schneiden und Polieren lernte. «Da kommt dann das Können zur Geltung», sagte er. «Sieh dir diesen Stein an; ist doch nichts, oder? Nur ein staubiger Klumpen Nichts.» Jon stellte sich auf seine künstlichen Füße. «Und jetzt sieh dir dies an!» Er lüpfte ein Tuch von einem Tisch, und darunter kam ein halbes Dutzend glänzend polierter Jadetafeln zum Vorschein, die zu Uhren verarbeitet waren, wobei die batteriebetriebenen Minutenzeiger an Klecksen aus Goldfarbe vorbeiruckten, welche die Ziffern darstellen sollten.

«Was ist das?», fragte er und hielt eins der größeren Modelle hoch.

«Eine Uhr?»

«Ja, natürlich ist das eine Uhr, aber was noch? Sieh dir doch mal die Form an. Na?»

Ich versuchte, einen Sinn hineinzukriegen, aber ich sah günstigstenfalls eine Scheibe Brot, deren Ecken von Ameisen oder Mäusen abgekaut waren,

«Das ist Oregon, du Blödi. Jeder kennt doch die Form von Oregon. Du bist vielleicht noch nicht lange hier, aber das ist keine Entschuldigung. Die Bauerntölpel in dieser Stadt werden mir die Babys aus den Händen reißen; so was hast du noch nicht gesehen! Ich berechne hundert Eier pro einmal Uhr, und das ist nichts, verglichen mit dem, was einige dieser Komiker für ihre Tierwelt-Schinken kriegen. Weihnachten steht vor der Tür, ich muss loslegen und anfangen, diese Mistdinger rauszuhauen, und weißt du, was? Du wirst mir dabei helfen!»

Sobald er das sagte, wusste ich, dass er recht hatte. Die ganz große Möglichkeit hatte sich mir eröffnet, und ich sah keinen Grund, nicht hineinzutappen.

Es war Jons Gewohnheit, jeden Arbeitstag mit einem Gebet zu beginnen. «Bin ich ganz allein in diesem Zimmer?», fragte er. «Mein Kumpel Jesus blickt herab und sagt: ‹Jon kenn ich, aber wer ist der liebenswerte Trottel mit dem spöttischen Grinsen auf dem Gesicht?› Los jetzt, knie nieder, zeig ein bisschen Dankbarkeit, dass du noch zwei Knie zum Knien hast.»

Nachdem ich die gewünschte Körperhaltung eingenommen hatte, konnte er also anheben: «Hallo da oben, o Herr. Ich bin’s mal wieder, Jon, Dein alter Spezi. Wenn es nicht zu viel verlangt ist, fände ich es echt schön, wenn Du diesen respektlosen kleinen Dussel, der jetzt für mich arbeitet, im Auge behalten könntest. Gib mir die Geduld, dann werde ich mich anstrengen und ihm beibringen, was Du bedeutest, und was dies kostbare Jadegestein bedeutet, das Du mir gegeben hast. Und, hey, danke für den Kaffee, aber hast Du auch Zucker? HA!»

«Man kann durchaus mit dem Herrn Witze machen», sagte er eines Morgens und entfernte sein rechtes Bein, um Salbe auf den bandagierten Beinstumpf zu schmieren. «Hey, da oben, ich hoffe, ich komme nie vor Gericht. Die Beweisführung meines Verteidigers stünde nämlich nicht mal auf tönernen Füßen. HA!»

Die religiöse Unterweisung wurde mit einem Charme vorgebracht, der rasch nachließ, wenn es an die Arbeit ging. Die Jade wurde auf einer unter Druck stehenden Säge in Scheiben geschnitten, an der ein Wasserschlauch angebracht war, der verhindern sollte, dass die Klinge zu heiß wurde. Jon schnitt den Stein in Scheiben, und es war mein Job, sie zu polieren. Dies geschah mit verschiedenen abgestuften runden Scheiben, die auf ein Rädchen passten, welches sich rasend schnell drehte. Sobald sie glatt waren, brachte ich die sechs Millimeter dicken Scheiben mit einem rotierenden Lederriemen auf Hochglanz. Durch die Reibung entstand ziemliche Hitze, und obwohl ich Handschuhe trug, ließ ich manchmal ein bereits ziemlich fortgeschrittenes Werkstück fallen, und es zerschellte auf dem Fußboden.

«Du dämlicher, unbeholfener Esel», rief Jon und schlug mit seinen Stöcken gegen den Tisch. «Weißt du, wie viel Arbeit in dem Stück steckt? Du gottverdammter, blöder Köter!» Nachdem ich erschöpfend beschimpft war, trug er seinen Fall den Himmeln vor. «Hey, o Herr, warum behandelst Du mich so? Soll das ein Test sein? Hast Du mir diesen Schussel gesandt, um mir eine Lektion zu erteilen? Was hab ich getan, um diese stinkende Scheiße zu verdienen?»

Die Tür, hinter der die Treppe zum Erdgeschoss lag, ging auf und eine Frau steckte den Kopf übers Geländer. «Bruder Jon, gibt es ein Problem?»

«Das kann man wohl sagen. Dieser Scheißkerl hat gerade vier Stunden Schwerstarbeit auf den Scheißfußboden geschmissen. Das ist mein gottverdammtes Problem.»

«Es tut mir sehr leid, das zu hören», sagte die Frau und hielt ihrer fünfjährigen Tochter die Ohren zu.

Dies Szenario wiederholte sich bis zu dem Tag, an dem das Kind seine Mutter als «Arschgesicht» anredete, und es wurde angedeutet, Jon würde sich vielleicht eine etwas abgelegenere Werkstatt suchen wollen.

«Schaff die Ausrüstung ins Auto», sagte er. «Bloß raus aus diesem Rattenloch.»

Er fand ein anderes Studio, einen ehemaligen Kosmetiksalon am Stadtrand. Morgens zogen wir mit den Maschinen um und am Nachmittag zeichnete er bereits wieder den Umriss von Oregon auf polierte Jadescheiben und schnitt ihn mit seiner Bandsäge aus. Im Laufe unseres Arbeitstages wurden wir ziemlich oft von Jons Glaubensbrüdern unterbrochen, die hereinschneiten, um zu sehen, wie wir vorankamen.

«Pete, Kimberley, hört mal zu. Für fünfundsiebzig Dollar könnt ihr so eine Uhr haben. Versucht nicht, mir das auszureden; das ist der Rabatt des Herrn, nicht meiner. Ich … Was war das?» Er blickte an die Zimmerdecke und legte beide Hände hinter die Ohren, als versuche er, aus einer Information schlau zu werden, die aus einem weit entfernten, knackenden Lautsprecher kam. «Was? Okay, wenn Du meinst.» Er wandte sich wieder an seinen Besuch und hob die Schultern. «Der Herr hat zu mir gesprochen und gesagt, wo ich gerade dabei bin, gibt’s die Batterien dazu. Was meint ihr? Fünfundsiebzig Dollar.»

Ob er mit Phil und Dotty Frost sprach, mit Walter und Linda Tuffy, mit Hank und June Staples, mit den Mangums, den Stenzels oder den Clearwaters, die Reaktion war immer die gleiche: «Wir wissen das Angebot zu schätzen, Bruder Jon, aber es übersteigt leider ein bisschen unsere Barmittel.»

«Dann machen wir eben ein Finanzierungsmodell; na, wie sieht’s aus?»

Die Mitglieder lachten verhalten und versuchten, seinem Blick auszuweichen. «Da würden wir ja liebend gern mitziehen, wirklich wahr, aber die Bank sagt, wir haben bereits mehr Finanzierungsmodelle laufen, als uns guttut.»

«Scheißknauser.» Jon stand am Fenster und winkte, während die Besucher aus der Einfahrt fuhren. «O Herr, warum hast Du mir diese geizigen, nichtsnutzigen Freunde gesandt?»

Bis ich siebzehn wurde, war ich gezwungen worden, die Orthodoxe Kirche der Heiligen Dreieinigkeit zu besuchen. Der Gottesdienst wurde von einem Popen im Kittel abgehalten und erforderte endlose Runden von Stehen, Sitzen und Knien. Alle paar Stunden streunten die Messdiener mit Humpen schwelenden Weihrauchs durch die Gänge, und nacheinander fiel die Gemeinde, vom Fasten benommen, um wie die Fliegen. Weil ich nie verstehen konnte, was gesagt wurde, machte ich mir ein Bildnis von Gott, welches nicht zürnend, richtend und strafend war, sondern einfach schmerzhaft langweilig. Christus war mir ein Mysterium, und Jon und seine Freunde waren begierig, die Lücken zu füllen. Es gab Tage, an denen ich mit der festen Überzeugung von der Arbeit kam, dass eine Belohnung von fünfhundert Dollar auf den ersten Menschen ausgesetzt war, der es schaffte, meinen Kopf in das nächste Gewässer oder Tauf-Planschbecken aus Plastik zu tunken. Ich war ein Klumpen umgeformten Lehms, umzingelt von einer Gilde eifriger Bildhauer. Dies waren die einzigen Menschen, zu denen ich – außer zu den Männern und Frauen, die mich jeden Tag mitnahmen, wenn ich zur Arbeit und wieder nach Hause fuhr – Kontakt hatte. Ich kam in die Werkstatt, hörte Radio Frohe Botschaft, wurde von Jon verfucht und von seinen vorbeischauenden Freunden und Nachbarn wieder gesegnet. Es war, als wäre man in ein fremdes Land geschickt worden, um in eine Sprache einzutauchen, die, irgendwie, mit der Zeit, die eigene werden sollte.

«Friede sei mit euch, Brüder.» – «Wie heißt es noch so schön in Johannes dreizehn?» – «Der König kommt!» Ich kämpfte wie verrückt dagegen an, aber meine einzige Alternative bestand darin, mit niemandem zu sprechen. Ich hatte das bereits versucht, und es hatte dazu geführt, dass ich Kühen Vorträge hielt, bis der Bauer mir sagte, das schade ihrer Verdauung. Dieser Gott war jemand, mit dem ich mich schließlich immer mehr beschäftigte, wenn ich in meinen immer kälter werdenden Anhänger zurückkehrte. Strafte Er mich mit dieser Mahlzeit, oder belohnte Er mich? Beobachtete Er mich aktiv, oder nahm Er mich als selbstverständlich hin, wie einen Fisch, den man nicht wahrnimmt, bis er mit dem Bauch nach oben im Aquarium dümpelt?

Im neugefundenen Geiste der Vergebung schrieb ich meinen Freunden zehn- bis fünfzehnseitige Briefe und wieder kam keinerlei Antwort. Es gelang ihnen nicht, eine Postkarte abzuschicken, während all diese Leute hier – die Halbergs, die Cobblestones, Sam und Charlotte Shelton mich brieflich zur Teilnahme am Erntedankfestessen bewegen wollten. Ich lehnte dankend ab, und einige nahmen es auf sich, mir einen Truthahn vor die Anhängertür zu le- gen. Unglücklicherweise war die Gabe mit Ananasscheiben aus der Dose dekoriert, aber immerhin, man hatte sich bemüht. Das Geschenk war mir peinlich, so peinlich wie die anderen. An jenem Tag stellte ich mich mehrmals im Schlafzimmer tot. Ein Auto näherte sich, ich rannte ins andere Zimmer und tat, als wäre ich nicht da. Ihre Güte beschämte mich und ihre Küche kasteite mich. Es schien eine direkte Beziehung zwischen Gottesfurcht und dem fehlgeleiteten Eifern für Marshmallows zu bestehen.

«Was hab ich dir gesagt?», sagte Jon. «Die besten Menschen der Welt und du hast sie direkt um die Ecke. Haben dir deine Freunde zu Hause einen Korb selbstgekochte Truthahnfüllung mitgebracht? Haben deine Leute dir ein Marshmallow-Tortelett oder ein ganzes Blech voll Brötchen gebacken? Natürlich nicht! Gekonnt hätten sie, aber sie haben nicht.» Er trat ans Fenster und rief zum Himmel empor: «Hey, o Herr, nur für den Fall, dass dieser Holzkopf es nicht gesagt hat: Danke für die Füllung!»

Hin und wieder stellte Jon seine Säge ab und wandte sich an mich: «Ein Freund von mir würde sich gern mal mit dir unterhalten. Er sagt, er versucht dich schon seit einiger Zeit zu erreichen, aber du nimmst seine Anrufe nicht entgegen.»

«Wie denn auch; ich hab ja kein Telefon.»

«Brauchst auch keins. Der Typ spricht dir direkt ins Herz hinein. Warum sprichst du nicht auch mal mit Ihm? Was hast du zu verlieren, deine gute Laune? Du bist doch jetzt auch nicht glücklich; das kann ich dir sagen. Du suchst und suchst und suchst nach etwas, was du doch direkt vor der kleinen rotzigen Nase hast. Du musst nach der Freude greifen! Sie wird dir nicht in den Schoß fallen, du dämlicher Sack, du musst sagen, dass du sie willst. Aber das ist es dann auch schon. Mehr ist nicht nötig.»

Mein Anhänger hatte fließend Wasser, aber es war nicht warm. Seit meiner Ankunft hatte ich mein Badewasser immer gekocht, aber in der letzten Novemberwoche war es so kalt geworden, dass das Wasser, sobald es mit der Wanne in Berührung kam, Zimmertemperatur annahm. Mein Heizungssystem bestand aus einem Heizlüfter, dem Herd und einem Toaster, was alles nicht viel nützte, wenn man nicht genau darüber schwebte. Am wärmsten schien es noch im Kühlschrank zu sein. Ich legte mich voll angekleidet ins Bett und zog die Handschuhe nur aus, um zu baden oder um Kleingeld aus der Hosentasche zu holen. Weil das Studio geheizt war, verbrachte ich dort immer mehr Zeit. Jon ging um fünf, und ich blieb da, um auszufegen und an meinen eigenen Projekten zu arbeiten. Die Uhren hatten es mir nicht sonderlich angetan, aber Jade als solches konnte schön sein, wenn sie nicht zu Tode poliert wurde. Schmuck bedeutete zu viel Kleinarbeit und Buchstützen waren Zeitverschwendung. Ich wollte, beschloss ich, eine stash box machen, ein Kästchen für den Marihuana- oder Haschischvorrat. Jon warb für seine Uhren mit dem Verkaufsargument, sie seien sowohl nützliche Gebrauchs-, als auch Gesprächsgegenstände. Das Problem war, dass man bekifft sein musste, um tatsächlich über sie zu reden. Niemand sonst würde herumsitzen und die Tatsache würdigen können, dass um neun der große Zeiger auf Arlington und der kleine auf Eugene zeigte. Eine stash box wäre die Ergänzung, die eine solche Uhr erträglich macht. Sie müsste einfach und doch bezaubernd sein. Nicht so elegant, dass Besucher nach ihnen greifen würden, und nicht so luxuriös, dass die Besitzer ständig an all die anderen schönen Dinge erinnert würden, die sie sich leisten könnten, wenn sie nicht ihr ganzes Geld für Drogen ausgäben.

Es gab Nächte, in denen ich bis Mitternacht arbeitete und dann auf dem Feldbett schlief, das Jon hinten im Studio zusammengeklappt stehen hatte. Kurz vor Sonnenaufgang wachte ich auf, durcheinander und ohne eine Ahnung, wo ich war. «Schlaf wieder ein», sagte dann eine Stimme. «Du bist in einem ehemaligen Kosmetiksalon, von batteriebetriebenen Uhren umgeben. Kein Grund zur Sorge.» Sprach da der Herr?

Ich hatte über mein Leben immer in Begriffen wie «Glück» oder «Pech» nachgedacht, aber was war, wenn tatsächlich jemand das Kommando über unser Geschick hatte? Was war, wenn all unsere Pläne sich auf Null beliefen? Denken Sie an den Typ, der sein Leben lang für die Olympiade trainiert und einen Tag vorher auf einen Nagel tritt. Was ist mit diesen ganzen absolut netten, schwer schuftenden Menschen, deren Zuhause durch Feuer und Flut zerstört wird? Im Radio hörte ich mir eine Frau an. Verbrennungen bedeckten achtzig Prozent ihres Körpers. «Der Herr schickt uns nicht mehr, als wir ertragen können», sagte sie. Wie Jon war sie weit davon entfernt, verbittert zu sein. Sie klang praktisch wie in Ekstase, ihre Stimme war so hoch und melodisch, dass ich dachte, gleich bricht sie in Gesang aus. «Gott macht die eine Tür nicht zu, ohne eine andere zu öffnen.» War das der Friede, diese totale Vertrauensseligkeit und Selbstpreisgabe? Weil ich faul war, hatte ich die Philosophie übernommen, dass die Dinge einfach passieren. Es war viel einfacher, andere verantwortlich zu machen, als selbst Initiative zu ergreifen. War es Zufall, dass Jon mich beim Trampen mitgenommen hatte, als ich gerade erwogen hatte, nach Hause zurückzukehren? Könnte eine höhere Macht mich in diese kleine Stadt geschickt haben? Hatte der Herr es gefügt, dass ich stash boxes machte?

Diese Gedanken machte ich mir eines frühen Morgens, als Jon erschien und sagte: «O Herr, heute scheine ich richtig zu handeln! Gestern Nacht habe ich gebetet, dieser faule Dussel möge einmal pünktlich sein, und hier ist er, und Kaffee ist auch schon fertig.» Er interessierte sich überhaupt nicht für meine Kästchen und tat sie als Zeit- und Materialverschwendung ab. «Was willst du denn da reintun? Drei Finger? Ein paar Dutzend Q-Tips? Die sind ja nicht mal groß genug für ein Kartenspiel. Wer braucht so was? Eine Uhr dagegen –, eine Uhr braucht jeder. Jemand kommt bei dir zu Besuch und fragt: ‹Bin ich zu früh dran?› Auf was kuckst du dann? Auf ein Kästchen? Natürlich nicht! Eine Dame sagt: ‹Im Rezept steht, ich soll diesen Pudding eine halbe Stunde lang kochen; da sehe ich mal auf mein Kästchen, ob er schon gar ist.› Lachhaft. Es kommt darauf an, den Leuten zu geben, was sie brauchen, du Idiot. Wenn du nach der Arbeit herumfummeln willst, nur zu. Die technischen Fähigkeiten hast du, und es hat mir Spaß gemacht, sie dir beizubringen. Das Können ist also da. Der Grips? Da würde ich mich an deiner Stelle lieber etwas bedeckt halten. In der Abteilung wirst du den Mann da oben um Hilfe bitten müssen.» Er hielt inne, um sich nachzuschenken. «Hmm, schmeckt dieser Kaffee gut, stimmt’s? Danken wir unserem Freund, Jesus, dafür, dass er die Bohnen gespendet hat. Los, neige deinen leeren Kopf, und dann an die Arbeit. Die Zeit tickt. Ha!»

Unsere Zeit tickte der bevorstehenden Kunsthandwerkerleistungsschau in Portland entgegen, wo Jon ganz groß abzuräumen gedachte. Er hatte eine ziemliche Summe für den Stand bezahlt, erwartete aber, dieses Geld in den ersten zehn Minuten wieder reinzukriegen. «Hier sind die armen Schweine doch so pleite; das Einzige, was die sich noch leisten können, ist der Offenbarungseid, höhö. Portland dagegen, Portland ist doch gleich ganz was anderes. In Portland sitzt das Geld. Wenn ich am Ende des Tages keine dreitausend Eier klargemacht habe, kannst du meine Beine anzünden und zukucken, wie ich auf den Händen nach Hause gehe. Hörst Du das, o Herr? Was meinst Du, Großer? Sind wir im Geschäft?»

Die Kunsthandwerksmesse sollte an einem Samstag zwei Wochen vor Weihnachten auf einem Marktgelände unter freiem Himmel stattfnden. Am Freitag davor machten wir Preisschilder und luden fünfundsiebzig Uhren und vier Kiffkästchen in den Kombi. Jon war in festlicher Stimmung und fuhr mich nach Hause, wobei er sein Referat über Verkaufstechnik unterbrach, um mir eine junge Frau zu zeigen, die am Münzfernsprecher einer Tankstelle stand. «Süßer, gnadenreicher Jesus auf Toast, sieh dir die beiden Aufschlagzünder an! O Jesus, an diesen Titten könnte ich lutschen, bis die Kühe nach Hause kommen. Lass mich ran, lass mich ran.» Ich hatte ihn schon ein- oder zweimal so erlebt, aber diesmal quollen seine Augäpfel so weit vor, dass sie praktisch die Brillengläser berührten. Nachdem er sich wieder unter Kontrolle hatte, setzte er mich vor meinem Anhänger ab und machte eine Uhrzeit aus, zu der er mich am nächsten Morgen abholen wollte.

An diesem Abend erwartete mich vor der Tür eine Plastiktüte mit sechs Briefen und einer Mitteilung von Hobbs, der sich dafür entschuldigte, sie nicht früher abgeliefert zu haben. Er fuhr jeden Morgen zum Briefkasten, um seine Post abzuholen, und meine Briefe hatten sich seit Wochen auf seinem Armaturenbrett angesammelt. Ich näherte mich meiner Post so, wie sich ein Verhungernder zu einem Bankett niederlässt. Es war ratsam, diese Fülle in kleinen Portionen zu genießen, aber ich konnte nicht anders, ich schlang jeden Brief auf einen Haps herunter, wobei meine Augen auf dem Blatt hinauf- und wieder herunter wanderten, als betrachtete ich ein Bild. Zuerst schluckte ich alles herunter, und dann, beim zweiten Lesen, begann ich, jedes Wort zu Speisebrei zu zerkauen. Da war ein Brief von meiner Schwester Lisa und einer von meiner Mutter, und beide hofften, ich würde zu Weihnachten nach Hause kommen. Meine Mutter beschrieb in ihrer vertrauten, stark geneigten Handschrift einen Autounfall am Nordgürtel, dessen Zeugin sie gewesen war. Lisas Brief, säuberlich getippt, teilte mir mit, sie wünsche sich einen Lockenstab zum Geburtstag, zu Weihnachten dagegen eine Kiste mit wahlweise Shampoo oder Schampus. Ich hatte offenbar in absentia ihren Namen gezogen und war nun während der Feiertage für ihr Glück alleinverantwortlich. Es gab zwei Briefe von Veronica, deren erster ihr fröhliches Erntedankfest wiedergab, während der zweite detailliert die jüngst erfolgte Trennung von «diesem Scheißkerl, der einst mein Boyfriend war», schilderte. Es gab einen Brief von meinem Freund Ted und einen von einem alten College-Zimmergenossen. Ich las beide immer wieder, betastete das Wort Liebe immer wieder mit den Fingern, bis ich beide Absender deutlich vor Augen hatte, wie sie an Schreib- und Küchentisch saßen. Das Gefühl als warm zu beschreiben, hieße dem Gefühl Unrecht tun. Es war, als hätten sich meine Toten, nachdem ich sie betrauert und ihre Gräber mit Blumen bepflanzt hatte, im Restaurant an meinen Tisch gesetzt und erklärt, es sei alles ein bedauerlicher Irrtum gewesen. Ich saß am Herd, Toaster und Heizlüfter zu meinen Füßen, als ein grelles Licht auf die Wand fiel und Curly vor der Tür stand. Er riss sie auf, sagte «Lange nicht gesehn», drängte an mir vorbei und prüfte den Inhalt des Kühlschranks, als wäre er eigens zu diesem Zweck ausgesandt worden. «Ich dachte, du wärst aus der Stadt verschwunden, aber dann hat Dorothy gesagt, sie hat dich beim Trampen an der Straße nach Hood River gesehen. Ist sie denn wenigstens schön kuschelig, die Jacke meiner Mutter, Einstein?» Er war noch eindringlicher geworden, aber nicht anziehender. «Ich könnte dich verhaften lassen; das weißt du doch, oder? Das Stehlen von Jacken ist im Staat Oregon ein Verbrechen.»

Es schreckte mich nicht, die Nacht im Gefängnis zu verbringen, weil ich versehentlich die Jacke einer Wahnsinnigen entwendet hatte, deren Sohn Treppenpfosten für erotische Objekte hielt. Ich gab ihm die Jacke seiner Mutter, entschuldigte mich für das Missverständnis und dachte, das wäre es gewesen, aber er ging mich immer wieder an, knuffte mir auf den Kopf und lud mich zum Ringen ein. «Wir können das auch ohne die Spielsachen machen, wenn es dir so lieber ist», sagte er. «Ich hab eine Flasche im Laster; die können wir auch nehmen. Na los, Einstein, du bist mir was schuldig.» Wenn ich ihn abwies, steigerte er sich, trieb mir seine Knöchel in den Schädel und arbeitete sich und mich in Richtung Bett vor. «Bisschen kitzlig, was? Lässt dich gern ein bisschen aufschütteln wie ein Kissen, was? Das gefällt dir, was, du kleiner Kitzelbitzel?» Für kurze Zeit konnte ich seiner Umarmung entrinnen, aber der Mann war zu schnell für mich. Seit Monaten schwitzte ich zum ersten mal. Er schmiss mich um und drückte meine Schultern gegen den Fußboden. «Mach, dass du von mir runterkommst!», rief ich. «Ich kann das nicht mit dir machen, weil … weil ich Christ bin.» Da hatte ich das Gefühl, als öffneten sich gleichzeitig mein Herz und die schleimabsondernden Drüsen von Nase und Hals. An meinen behandschuhten Händen war so viel Rotz, dass sie, als ich die Handflächen im Gebet aneinanderhielt, kleben blieben wie geleimt. Ich weinte und plärrte und dann schluchzte ich. «Ich bin Christ. Ich liebe Jesus; kannst du das nicht sehen?» Die Worte klangen wahr und ich weinte noch heftiger. «Christ, ich bin Christ. Hilf mir Jesus, ich bin Christ.»

«Schluss damit», sagte Curly und ging rückwärts zur Tür. «Ich wollte nicht deine Lebensgeschichte, nur einen schnellen Fick.»

Ich blieb noch lange, nachdem er gegangen war, auf dem Fußboden liegen und fragte mich, wie mein Leben wohl werden würde, jetzt, nachdem ich endlich mein Herz geöffnet hatte. Die Zigaretten schmeckten bereits besser, aber das tun sie nach einer ordentlichen Flennerei immer. Der Kühlschrank, der Toaster, alle Geräte sahen noch genauso aus wie vorher. Ich dachte, die Dinge würden strahlender erscheinen, wenn man sie mit der heiteren christlichen Einstellung betrachtete, und so ging ich ins Badezimmer, als wäre es ein Klubhaus voller treuer Freunde. «Hallo, Seife», sagte ich. «Na, wie läuft’s, Toilette?» – «Siehst gut aus, Badevorleger.» Ich ging durch Küche und Wohnzimmer – «Du oller Lampenschirm, du» – und stieß bis ins Schlafzimmer vor, wo ich mein Adressbuch durchblätterte und mich zwang, freundliche Gedanken über jeden zu denken, den ich durchgestrichen hatte. Es war schon spät, als ich endlich ins Bett ging, und ich konnte lange nicht einschlafen, weil ich mich fragte, ob Gott mich beobachtete. Es war ein unbehagliches Gefühl, beobachtet zu werden. Was war mit dem Klo, beobachtete Er mich da auch? Wahrscheinlich hatte Er überall Zutritt, wo Menschen litten, und das galt, wenn ich an meine Erntedankmahlzeit dachte, gewiss auch für die Toilette. Wie war es dann möglich, Ihn vom Beobachten abzuhalten? Morgen früh wollte ich gleich als erstes Jon fragen. Es war schwer einzuschlafen, teilweise weil ich es nicht erwarten konnte, ihm die Neuigkeit zu berichten. Ich war jetzt ein Christ, ein Christ. Hoffentlich konnte ich die Phase, in der man große Kreuze trägt und Broschüren mit dem Titel Der Satan in Mrs. Jones oder Schlachthaus des Satans verteilt, überspringen. Indem ich die hoffnungslos geschmacksarmen Mitsinge-Abende und jeder-isst-was-auf-den Tisch-kommt-Kirchenkeller-Diners ausließ, strebte ich schnurstracks den Posten des Beurteilers an. Die Menschen würden mir Geld dafür zahlen, dass ich ihnen sagte, was sie falsch machten, und indem ich jeden einzelnen ihrer Schritte kritisierte, würde ich der ganzen Menschheit helfen. Mit einem bisschen Glück konnte ich das tun, ohne etwas Marshmallowhaltiges essen oder die Bibel lesen zu müssen. Ich stellte mir gerade meine Privataudienz beim Papst vor, als ich endlich zum Klang erwachender Vogelstimmen einschlief.

«Jesus, du siehst aus wie Scheiße», sagte Jon, als ich mich früh am Morgen in seinem Kombi niederließ. Ich dachte, ich könnte meine Rede auswendig, aber ich hatte verschlafen und keine Zeit gehabt, mir eine Kanne Kaffee zu kochen. Groggy und dickzüngig begann ich mit der Schilderung meines Besuchs in Curlys Anhänger. «Also nahm er mich mit ins Schlafzimmer und da stellte sich heraus …»

«… dass der Typ ein Homo war, stimmt’s?» Jon kräuselte vor Ekel die Lippen. «Das ist mir mal beim Barras passiert. Es gibt eine Menge kranke Menschen auf der Welt. Der Typ hat mich gefragt, ob er mich halten kann, genau das hat er gesagt. ‹Kann ich dich halten?› Damals hatte ich noch Beine, und ich habe sie benutzt, um ihm in den Arsch zu treten. Aber du bist doch auch so einer, oder?»

Ich nickte.

«Das hab ich gewusst, als ich zum ersten Mal gesehen hab, wie du schmirgelst. Da hab ich gesagt: ‹Der Typ ist krank.› Und stimmt doch, oder? Du bist krank.»

Er sagte es besorgt, wie man mit einem Freund spricht, der Schläuche in der Nase hat. «Du bist krank.» Ich versuchte, meine Flennkiste wiederzubeleben, aber sie klang unecht. «Buu-huu-huu. Auu-ha-ha-hu-hu-hu-hu.» Es war ohne Schleim, und ich musste mir mit den Fingern in die Augen stechen, um Tränen hervorzubringen. «A-he-he-huhu-hu.»

«Flenn mich nicht voll. Sag es Jesus», sagte Jon. «Streck die Hand nach Ihm aus. Sag ihm, dass es dir leid tut. Hock dich hier auf den Boden und bete, um Himmels willen.»

«Ach, Gott, hu-hu-hu, es tut mir so leid, dass ich diesen Typ kennengelernt habe. Er war so blöd.»

«Und sag Ihm, dass du das nie wieder machst», rief Jon.

«Und ich mache das nie wieder», sagte ich. «Nie wieder mit Curly, nie wieder.»

«Mit gar keinem Mann. Sag Ihm, dass du dich nie wieder mit einem anderen Mann hinlegst. Sag Ihm, du willst heiraten.»

«Ach, bitte», sagte ich. «Bitte, lass mich heiraten.»

«Eine Frau», sagte Jon. «Eine Frau und nicht einen Mann.»

«Eijejau», heulte ich, «eijejau-u-ii einen Mann», und hoffte, dass ich, falls das Protokoll je vor den Himmlischen Gerichtshof gebracht wurde, nicht dran war, weil ich Versprechungen gemacht und dann nicht gehalten hatte. «Eijeiau-u-ii einen Mann.» Irgendwo unterwegs hatte ich vergessen, dass genau das dazugehörte. Konnte ich nicht Beurteiler sein und mit Typen schlafen?

«Und sag Ihm, es tut dir leid, dass du so lange Mittagspausen machst und so ungeschickt bist.»

«U-hu-hu-hu, es tut mir leid, dass ich so viel fallen gelassen habe. Es tut mir wirklich, wirklich leid.»

«Na gut, na schön», sagte Jon. «Du kannst dich jetzt wieder hinsetzen. War doch gar nicht so schlimm, oder? Ich wusste doch, dass es mit dir noch klappt; du hattest schließlich den besten Lehrer, den es gibt. Hiermit verleihe ich dir den offiziellen Titel, C. O. G. Na, wie fühlt sich das an? Ganz schön gut, was? Und wem hast du das zu verdanken?»

«Curly?»

«Nein, mir, du Idiot.»

Jon erwähnte ein paar weitere Zugeständnisse, die ich machen musste, und dann erreichten wir die Stadt Portland, wo die Frauen in engen Jeans und strammsitzenden Jacken flanierten. «Dreh dein Fenster runter und frag die Blonde, ob hier gerade Miss-AmerikaWahlen stattfnden.»

Ich fragte, sie trat ihre Zigarette aus und sagte: «Da muss ich mich total geschlagen geben, Alter.»

«Total. Geschlagen. Das kann sie gern von mir haben, meinetwegen auch total. Schlampe. Hey, kuck mal die da mit der Kaninchenjacke. O Gott, süßer Jesus, sieh dir diesen Arsch an. Man weiß, dass es einen Gott gibt, wenn man einen solchen Hintern sieht. Würdest du nicht gern den Rest deines Lebens damit verbringen, diesen feinen, fetten Arsch durchzubleuen? Möchte man nicht einfach sein Gesicht in so was vergraben, bis es dunkel ist?»

Ich versuchte, Frauen als Christ zu betrachten, was seltsam war, da ich dachte, ich hätte das schon immer getan. Ich fand es angenehm, dass es sie gab, aber es war mir unmöglich, ihre Brüste oder Gesäße zu beurteilen, die ich nicht anders ansah als ihre Ohren oder Fußknöchel. Sie waren Gestalten, manche kleiner oder größer, aber keine von ihnen erotisch stärker befrachtet als die Bäume und Briefkästen, die an der Straße standen.

«Bleib dran, Mutti; Vati kommt», sagte Jon. «Dreh dein Fenster runter und frag, ob sie die Jeans mit dem Pinsel oder mit der Rolle aufgetragen hat.»

Er musste wirklich an Wunder glauben, wenn er annahm, ich würde eine wildfremde Frau fragen, ob sie hinten einen Lieferanteneingang hat.

Wir fuhren auf den Marktplatz, und ich entlud den Kombi, während Jon sich auf seine Stöcke stützte, die schmucken Töpferinnen anstaunte und den Makramee-Stickerinnen nachpfiff, die dünne, kunstvoll gefochtene Zöpfe trugen.

«Ihre Bastkörbe kann sie behalten, aber Kuck dir ihre Körbchengröße an. HA!»

Flohmarkt oder Kunstgewerbemesse –, allgemein wird davon ausgegangen, das, was den Verkäufer interessiere, müsse das Publikum vollends für sich einnehmen. «Sie sehen sich den Panda an? Nun, er ist nicht nur ein gehäkelter Bär; er ist ein kleidsamer Schoner für den Küchenmixer und eine Kasperpuppe!» Ich könnte mich zwar dazu durchringen, die Tatsache anzuerkennen, dass jemand sich die Zeit genommen hat, ein lufthauchbetriebenes Glockenspiel aus zwei Dutzend Fünfcentstücken zu bauen, aber keinerlei gute Worte werden mich dazu bringen, zur Brieftasche zu greifen. Ich fälle meine Entscheidungen lieber in Ruhe.

Den Bürgern von Portland nützte dies freilich wenig. «Du musst mit den Leuten reden», sagte Jon. «Knips den Charme an und mach Geld! Und jetzt pass auf: Entschuldigen Sie, gnädige Frau, haben Sie zufällig die genaue Zeit?»

Die Frau blickte auf ihr Handgelenk und meldete, es sei 9:15 Uhr. «Entschuldigung, Sir, haben Sie die genaue Zeit? Nun, ich habe sie. Es ist höchste Zeit für Sie, eine Uhr zu kaufen. Völlig richtig, eine Uhr! Dass Ihre Zeit kostbar ist, werden Sie daran merken, dass dies keine gewöhnliche Uhr ist, denn sie ist aus Jade! Völlig richtig, aus Jade! Es ist Zeit für Sie, eine Jade-Uhr in der Form von Oregon zu kaufen; das ist die genaue Zeit. Wenn Sie mir ein Bild von Ihrer Frau oder Freundin zeigen, kriegen Sie von mir einen Nachlass in Höhe von fünfundzwanzig Prozent. Ich will das Gesicht des Mädchens sehen, das am Weihnachtsmorgen diese Uhr auspackt. Wenn das Mädchen hübsch ist, verzichte ich noch mal extra auf weitere zehn Dollar und überlasse Ihnen eins dieser Schmuckstücke für lumpige hundert Eier. Sie sagen, ich spinne? Aber das ist doch praktisch geschenkt! Ja, vielleicht bin ich verrückt, aber das kommt davon, wenn man Künstler ist. Na los, hundert Dollar, wie sieht’s aus?»

Ich war nicht der Einzige, den diese Verkaufstechnik lähmte. Die Käufer wichen zurück, alle Farbe schwand aus ihren Gesichtern. Auf geradezu lebensbedrohende Weise vollgesülzt, flohen sie zu den Ständen ringsum. «Die kommen wieder», sagte Jon. «Ich habe die Saat des Interesses gelegt, und jetzt kann es sich nur noch um Minuten handeln, bis sie aufgeht. Man muss ihr nur ein bisschen Zeit lassen.»

Ein Mann und eine Frau mit Fransenjacken im Partnerlook näherten sich unserem Tisch und Jon begann mit seiner Masche: «Ihr denkt vielleicht, ich ticke nicht richtig, aber ich finde, es ist an der Zeit, dass ihr euch eine Uhr kauft.»

Der Mann hob eins meiner Kästchen auf, wandte sich an die Frau und sagte: «Nathaniel benutzt doch ein Pfeifchen, oder?»

Verkauft. Weil sie bereits bekifft waren, konnte ich meine Kundschaft riechen. Ich hatte meine Kästchen mit fünfundzwanzig Dollar pro Stück ausgezeichnet und gegen Mittag waren alle vier verkauft.

«Na, Goldlöckchen, noch eine passende Uhr dazu? Jeder, der gemusterte Stiefel trägt, kriegt heute ausnahmsweise dreißig Prozent Rabatt.»

Am späten Nachmittag hatte Jon auf der Suche nach Kunden begonnen, in andere Stände einzudringen. «Kleenex-Spender aus Buntglas? Was wollen Sie denn damit? Ich werde Ihnen etwas zeigen, was Sie wirklich aus den Socken haut.»

Die Menschen von Portland zuckten zusammen. Dann zuckten sie die Schultern und entschuldigten sich, aber kein Einziger erklärte sich dazu bereit, eine Uhr zu erwerben, die nach dem Bilde seines schönen Staates gesägt war.

«Geizige Scheißkerle», sagte Jon. «Hey, Herr, warum hast Du mir nicht gesagt, dass diese Fieslinge solche Knicker sind?»

Als die anderen Kunsthandwerker anfingen zusammenzupacken, sagte mir Jon, ich solle dranbleiben. «Auf diese Weise haben die Nachzügler weniger Auswahl. Die haben uns hier ganz hinten hingesteckt, wo niemand uns findet, das ist das Problem. Wenn die Kunden hierherkommen, haben sie längst ihr ganzes Geld ausgegeben. Jetzt wird’s ernst, Junge. Unser Tag hat erst begonnen.»

Lieferwagen, Kleinbusse und Laster kamen, ich sah zu, wie unsere Nachbarn ihre Klapptische und Trennwände aufluden und einander zu ihren alle Rekorde brechenden Verkäufen beglückwünschten. Es war bereits dunkel, als Jon mir gestattete, den Kombi vollzupacken.

Schweigend verließen wir das Weichbild der Stadt und erreichten die Autobahn und hinten tickten die Uhren die Worte «erstick, erstick, erstick». Ich war seit einiger Zeit zum ersten mal wieder in einer richtigen Stadt gewesen, und im Laufe des Tages hatte ich mehrmals aufgeblickt und beim Anblick einer fremden Rucksackträgerin gedacht, ich kenne sie. Es war ein berauschendes, frohes Gefühl gewesen: «Da, das ist doch Veronica; das ist doch Gretchen.»

Es war unlogisch, aber das hielt mich nicht davon ab, tief einzuatmen und von meinem Klappstuhl aufzuspringen. Die unweigerlich folgende Enttäuschung war niederschmetternd und diente nur dazu, mich daran zu erinnern, wie sehr ich die Menschen vermisste, die ich zurückgelassen hatte. Ich sah, wie Leute Weihnachtsgeschenke kauften, und malte mir aus, wie ich das Fest allein in meinem Anhänger verbrachte und darauf wartete, dass mir all die wohlmeinenden Christen einen Schinken oder Schmortopf an die Schwelle lieferten. Und diese Menschen waren gut. Sie waren freundlich und aufmerksam, aber ihre Gnadenakte waren an mich verschwendet, denn ich würde sie – egal, wie es gerade um mich stand – nie wirklich akzeptieren können. Vielleicht war ihnen das nicht wichtig, aber mir bedeutete es etwas. Ein Hühnchen, eine Pappschachtel, eine Jade-Uhr: diese Dinge waren viel versöhnlicher, als ich je zu sein hoffen konnte. Ich war ein Klugscheißer; als Klugscheißer geboren und als Klugscheißer aufgezogen worden. Das war mein Fluch gewesen und das würde weiterhin mein Fluch sein. Mich im Glauben zu unterweisen, war, als gäbe man einer Ziege Kochunterricht …; es brachte einfach nichts. Ich war zu gierig und unaufmerksam, und der süße Lohn, der am Ende winkte, war mir wurscht. Ich wollte meinen Job nicht hinschmeißen. Hinschmeißen erforderte ein gewisses Maß an Verantwortung und die wollte ich nicht übernehmen. Ich hoffte vielmehr, Jon würde mich dieser Last entbinden und mich sobald wie möglich rausschmeißen. Ich hatte für ihn Verachtung empfunden, sogar gelegentlich Hass, und nun bekämpfte ich den Drang, Mitleid mit ihm zu haben. Er muss es gewusst haben, denn er räusperte sich und machte sich daran, mich mitten im Gedankengang zu unterbrechen.

«Ich will dir mal ganz kurz was sagen», sagte er schließlich. «Ich hab’s nicht gern, wenn man mich ausnutzt. Ich spreche nicht von dem vielen Gratis-Kaffee und auch nicht davon, dass ich dich ständig umsonst überall hinfahre. Ich meine: hierdrin ausnutzt.» Er wollte auf sein Herz zeigen, musste aber gleichzeitig überholen und zeigte schließlich auf seinen Schoß. «Du bist ein Benutzer, Kleiner. Du hast meine Werkzeuge und meine Geduld benutzt, und jetzt willst du, dass ich dir den Kopf tätschele und dir sage, was für ein guter kleiner Junge du bist. Aber weißt du was? Du bist kein guter Junge. Du bist nicht mal ein gutes Mädchen.»

Mehr, dachte ich. Mehr, mehr.

«Du kommst in die Stadt gerauscht und erwartest, dass jetzt alle strammstehen und dir den roten Teppich ausrollen, und, ja, bei manchen hat das ja auch geklappt. Du hast ihre Truthahnfüllung gegessen und noch mal Nachschlag verlangt, aber das war es dann auch, Ferkel, der Schrank ist leer. Ich habe dir eine handwerkliche Fähigkeit beigebracht und jetzt kannst du zur Abwechslung mal selber zahlen. Völlig richtig, drehen wir mal den Spieß um. Warum nicht? Ist doch nur fair! Für den Anfang schuldest du mir hundert Dollar für die Standmiete. Du hast ja auch die Früchte geerntet, ich nicht. Ich habe mich lediglich krummgelegt und dir was beigebracht und dir beim Flennen zugehört, wenn du dir wieder mal die zarten kleinen Knöchelchen verletzt hattest. Du quatschst mich mit deinen Schluchzgeschichten voll, und dann erwartest du, dass ich dich abputze und dir sage, Daddy macht das schon. Aber weißt du was, Kleiner? Ich bin nicht dein Daddy, und ich habe es satt, wie einer benutzt zu werden.»

Er fuhr rechts ran und hielt. «Ich bin weder dein Daddy, noch dein Chauffeur, noch dein gottverdammter Weihnachtsmann.»

Ich überreichte ihm das Geld, das ich verdient hatte, und stieg aus dem Kombi.

«Für die Sache mit Gott berechne ich dir nichts», rief er. «Ihn kannst du gratis haben.»

Ich sah zu, wie er wieder auf die Straße fuhr, und, nachdem ich einen Stein in der richtigen Größe ausgewählt hatte, segnete ich das Heck seines Wagens. Es war nicht mehr übermäßig weit bis nach Odell, nicht mehr als zehn Meilen. Ich ging ein Stück zu Fuß und hielt dann den Daumen in die Luft, hatte es eilig, zurück zum Anhänger zu kommen. Wenn alles klappte, konnte ich noch aufräumen, meinen Kram packen und den Morgenbus nach Hause erwischen.